BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

© Verlag Leske + Budrich GmbH

© Copyright  Moscow 2002

Alexander von Plato  All rights reserved 

 E-mail: alexander.vonplato@fernuni-hagen.de

Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

Page 1    Page 2    Page 3    Page 4    Page 5    Page 6    Page 7    Page 8    Page 9    Page 10

Page 1

Problemaufriя und Literaturьberblick

Geschichte und Psychologie - das ist ein groяes Thema mit einer langen Geschichte, das beide Disziplinen implizit oder explizit seit ihren Anfдngen beschдftigte. Dieser Text[1] soll und kann nur Schneisen schlagen in die Verzweigungen dieser Thematik: zunдchst mit einem einfьhrenden, kursorischen №berblick ьber die Geschichte dieses Stoffs und mit einer Erinnerung an entsprechende grundlegende historische Literatur, in deren Traditionen wir eingebunden sind. Auяerdem soll dieser Text Mцglichkeiten und Probleme der Zusammenarbeit dieser Disziplinen, speziell der Oral History und der Psychoanalyse, anhand ausgewдhlter Beispiele vorfьhren.

Zuerst der kursorische Abriя der Vorgeschichte.

 

Grundfragen

Es sind Grundprobleme der Geschichtswissenschaft, die Historiker auf psychologische Fragestellungen[2] stoяen: Die Дbiographische Dimension der GeschichteУ war und ist die mit den deutlichsten psychologischen Implikationen, besonders wenn es um Дbedeutende PersцnlichkeitenУ in der Geschichte geht, um deren Charaktere oder gar um deren ДGenieУ. Die geschichtsphilosophischen Debatten des letzten Jahrhunderts[3] drehten sich seit dem deutschen Idealismus in besonderer Weise um das Verhдltnis von individuellen Mцglichkeiten und historischen Rahmenbedingungen, um die Ддu≠яerenУ und ДinnerenУ Krдfte, die in ihrer Widersprьchlichkeit die Geschichte vorantreiben, um ДFreiheit und NotwendigkeitУ. Seitdem stritt man um die Bedeutung Дob≠jektiverУ Bedingungen oder Дsubjektiver FaktorenУ bzw. um den Einfluя groяer historischer Persцnlichkeiten, die einer ganzen Epoche ihren Stempel aufzudrьcken in der Lage waren oder von eben diesen Bedingungen hervorgebracht wurden.[4]

Die Rolle der Persцnlichkeit in der Geschichte[5], die Motive von handelnden Personen in цffentlichen Positionen und ihre Biographien sind jedoch nur die offensichtlichen historischen Themen mit psychologischen Fragestellungen. Seit dem Historismus ging es insgesamt um das Verhдltnis von Verstehen und Rekonstruieren, von Ablagerung des Vergangenen und (Re-)Konstruktion von Geschichte fьr die Gegenwart. Hermeneutische Methoden verlangten nach individuellen und kollektiven psychologischen Erklдrungen sowohl der historischen Akteure als auch der Tradeure und Interpretierenden.[6] Entgegen der Kritik am Historismus und seiner angeblich vom Leben abgetrennten ДBlutleereУ waren es letztlich die Reprдsentanten dieser Schule, die die Historiographie als empirische Wissenschaft[7] etablierten und dabei auch hermeneutische Methoden entwickelten: Hermeneutik wurde begriffen als Lehre vom Verstehen, sogar als die Lehre vom Hineinversetzen der Heutigen in die ДVergangen≠heitenУ, um dabei Дforschend zu verstehenУ, wie es einer der Hauptvertreter dieser Schule, Johann Gustav Droysen, faяte. (Droysen 1974, 22) Dies setze die Reflexion, die Erkenntnis voraus, daя Дder Inhalt unseres IchУ historisch geworden sei, geworden und vermittelt. In diesem Prozeя schaffe die Erinnerung die Дerkannte Tatsache der VermittlungУ. So weit entfernt ist diese Anschauung nicht von der heutigen Begrifflichkeit der ДErfahrungУ als psychische und kognitive Verarbeitung von Eindrьcken und Erlebnissen. (Steinbach 1995, 96) Jedenfalls ist das scheinbar so moderne Begriffsquartett von ДErinnern - Verarbeiten - Deuten - VerstehenУ tief verwurzelt im Historismus des letzten Jahrhunderts.

Max Weber entfaltete in dieser Vermittlung - von der jeweils gegenwдrtigen Wirklichkeit und ihren Wissenschaftsreprдsentanten ausgehend - die Theorien vom Interesse der Forschenden und ihren Wertvorstellungen. (Weber 1982) Dadurch wurde die Selbstreflexion, die Kritik und die ДVeraltungУ von Wissenschaft und ihren Vertretern zum essentiellen Teil Дkulturwissenschaftlicher ErkenntnisУ, ьberhaupt jedweder wissenschaftlichen Forschung als Prozeя. Damit geriet eben auch die Sozialisationsgeschichte der Historiker mit ihren eigenen, zeitlich eingebundenen Prдgungen, Wertvorstellungen und Interessen in den Blick der Wissenschaftskritik. Auch hier hatte Droysen durchaus das Terrain vorbereitet. Der Mensch sei Дhineingeboren in das ganze Gewordensein, in die historischen Gegebenheiten seines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion, seines Staates, seiner schon fertigen Register und Zeichensysteme, in denen aufgefaяt, gedacht und gesprochen wird.У (Droysen 1974, 15)

Die Hoffnung historistischer Schulen, die Vergangenheit verstehen zu kцnnen, setze - so viele Kritiker seit der Jahrhundertwende - zumindest ein gewisses Einverstдndnis mit frьheren Anschauungen voraus, vor allem im nationalen Denken, in der Auffassung von der immerwдhrenden Wirkung anthropologischer Konstanten usw. Troeltsch kritisierte den Historismus 1922 vor allem deshalb, weil dieser die Tendenz zum Identitдts- und Wertverlust in den Jahrzehnten zuvor nicht berьcksichtigt habe (Troeltsch 1922). Hier setzte auch spдtere Kritik an. So schrieb Wehler in seiner Arbeit ьber ДGeschichte und PsychoanalyseУ, ausgerechnet der Historismus hдtte die Historizitдt der Verhaltensweisen und Kategorien menschlichen Denkens unterschдtzt.[8]

Jedenfalls verlangte der Verstehensbegriff, der im Historismus entstand und dann auch in anderen hermeneutischen Schulen[9] weiter entwickelt wurde, psychologische Instrumentarien fьr die Historiographie. Wilhelm Dilthey war es, der hier frьh entscheidende Akzente setzte und den Verstehensbegriff aus der historischen Wissenschaft (und darьber hinaus den ДErlebnisУ-Begriff) weiterentwickelte und als allgemeine Methode in den Geisteswissenschaften, besonders in der Psychologie, behauptete - gegen Versuche, dort naturwissenschaftliche Methoden anwenden zu wollen.[10] Das Verhдltnis von Geschichtswissenschaft und Psychologie, von Gesellschaft und Individuum in ihren jeweiligen Entwicklungen wurde auch von frьhen Psychoanalytikern, wie Freud selbst und - anders - C. G. Jung oder auch von Alfred Adler thematisiert.[11]

Vor allem ein neues Element der historischen Entwicklung machte eine Verдnderung auch im Verstehensbegriff notwendig und schlieяlich eine Verдnderung des Verhдltnisses von Historiographie und Psychologie, nдmlich die wachsende Artikulationsfдhigkeit nicht allein von Дgroяen PersцnlichkeitenУ, sondern von Bevцlkerungsgruppen bzw. Massenbewegungen und Parteien. ДMassenphдnomeneУ, groяe soziale und politische Bewegungen entwickelten Krдfte, die eine theoretische oder empirische Reduktion auf objektive Bewegungen und prдgende Persцnlichkeiten fragwьrdig machten.[12]


[1] Dieser Text ist aus dem einleitenden Vortrag auf der Tagung des Instituts fьr Geschichte und Biographie zu dem Thema ДGeschichte und Psychologie - Oral History und PsychoanalyseУ entstanden.

[2] Vgl. u.a. Brьckner 1982.

[3] Ein ausfьhrliches Literaturverzeichnis steht am Ende des Textes, im folgenden werden nur Kurzangaben zur verwendeten Literatur gemacht.

[4] Vgl. das geschichtsphilosophische Werk Д№ber die Rolle der Persцnlichkeit in der GeschichteУ von Plechanow (1856 - 1918). Daraus ein Beispiel fьr die Art der Fragestellung: ДVielleicht wдre Napoleon (vor dem 18. Brumaire - Pl.) nach Ruяland gegangen, wohin er ganz wenige Jahre vor der Revolution reisen wollte. Hier hдtte er sich wahrscheinlich in den Schlachten gegen die Tьrken oder gegen die kaukasischen Bergvцlker ausgezeichnet, aber niemand wдre auf den Gedanken gekommen, daя dieser arme, aber begabte Offizier unter gьnstigen Verhдltnissen zum Beherrscher der Welt hдtte werden kцnnen.У (Plechanow 1945, 35, Fuяnote *), oder Gьnther 1947.

[5] Zum Thema Persцnlichkeit und Geschichte lieferte Bosch eine Zusammenfassung in didaktischer Form (1977). Vgl. fьr die spдte, aber immer noch sehr festgelegte DDR-Historiographie: Wissenschaft und Persцnlichkeit in der Geschichte (1988).

[6] Vgl. vor allem Droysen 1972 und 1974, Spet 1918 (1993).

[7] Fьr Droysen selbst war Дreelle WissenschaftУ auch der Historiographie durch ДEmpirieУ ausgezeichnet. Vgl. dazu auch Steinbach 1995, 89-106.

[8] Wehler 1974, 11 f. Zum Verstehensbegriff schrieb Wehler: Das ДVerstehenУ ist aus dem aristotelischen Intuitionsbegriff erwachsen, von der theologischen Hermeneutik erstmals systematisch behandelt worden  - man denke hier an Schleiermachers Theorie der Auslegung - und fortab meistens mit einem nicht ganz erklдrbaren Einfьhlungsvermцgen verbunden worden. Es ist mithin in hohem Maяe Ausfluя sensibler Begabung und menschlicher Reife und beruhte ьberdies in Deutschland stillschweigend auf einigen zunehmend der Kritik ausgesetzten Voraussetzungen, von denen hier nur einige erwдhnt seien: Wenn Johann Gustav Droysen, der vielleicht mit dem schдrfsten analytischen Verstand ьber die Probleme des historischen Kerngedankens: Дforschend zu vestehenУ reflektiert hat, zu der Behauptung vorstoяen konnte, daя Дnichts, was den menschlichen Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck gefunden hat, ... nicht verstanden werden kцnnteУ, dann darf man das heute unter anderem auch als Ausdruck der optimistischen, relativ statischen Anthropologie des Historismus bewerten. (Wehler 1974, 9 f.).

[9] Zu den jьngeren Debatten um hermeneutische Methoden vgl. in der Literaturliste die Arbeiten u.a. von Albert, Berg, Bьhl (mit Aufsдtzen von Simmel), Dreyfuя (mit Foucault), Gadamer, Heinze-Prause, Hitzler, Huschke-Rhein, Oevermann et al., Pцggeler 1972 (mit Aufsдtzen von Dilthey), Seiffert, Soeffner, Spies, Sutter, Teichert.

[10] Vgl. vor allem Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) 1979 (zuerst 1883), 1900 und 1991 (zuerst 1905). Siehe dazu auch Steinbach 1995.

[11] Man denke nur an einige Arbeiten von Freud selbst wie ДMassenpsychologie und Ich-AnalyseУ oder seinen ДAbriя der Psychoanalyse. Das Unbehagen an der KulturУ. Zur hier einschlдgigen Theorie des Todestriebs bei Freud, der wesentlich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs rьhrte, vgl. u.a. Schmidt-Hellerau 1995 oder Eissler 1992. Selbst Alfred Adlers Individualpsychologie beschrдnkt sich keineswegs auf das Individuum als vereinzeltes Subjekt (Adler 1995). Carl Gustav Jung ging mit seinen kollektiven (Arche-)Typen und Mythen, mit seinen Arbeiten ьber Religion oder seinen Zivilisationsbeschreibungen einen anderen Weg (1980, 1989, 1996).

[12] Am bekanntesten wurde LeBons Psychologie der Massen, erstmals 1889 in Paris. Massen an deutschen Lesern gewann von geschichtsphilosophischer Seite Ortega y Gassets ДDer Aufstand der MassenУ (1974 bereits 234.-238. Tausend). Vgl. auch Stieler zu Person und Masse mit dem bezeichnenden Untertitel ДUntersuchungen zur Grundlegung einer MassenpsychologieУ (Leipzig 1929), oder Baschwitz 1938, Reiwald 1946. Siehe auch Hofstдtter 1975.

Hosted by uCoz