BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Hinzu kam, daя seit der zweiten Hдlfte des letzten Jahrhunderts historische Darstellungen in Europa nicht allein den Universitдtslehrern und ihrem akademischen Auditorium ьberlassen blieben. Ein wachsendes Publikum, das mehr und mehr dem dumpfen Analphabetismus entwuchs, verlangte in Museen und Ausstellungen nach populдren Geschichtsprдsentationen, nach Themen, die sich nicht auf die №berlieferung zentraler Staatsapparate beschrдnkten, sondern ДVolkskulturenУ, ДSitten und Ge≠brдucheУ, Wohn- und Lebensformen, Arbeitsweisen und ihre Instrumente usw. in die Museen und Ausstellungen aufnahmen. Geschichtsbilder wurden geschaffen, die wesentlich eine breite, zumeist nationale Rezeption und Identifikation erlaubten. Umgekehrt verlangte ein solches Massenpublikum jedoch auch Prдsentationen, die seinen Bedьrfnissen, seinem Geschmack und Bildungsstand entsprachen. Wie weit solche populistischen Prдsentationen Bedeutung erhalten kцnnen, zeigen beispielsweise die Entwicklung der Weltausstellungen des letzten Jahrhunderts mit ihrem Millionenpublikum[13] und schlieяlich die rasant zunehmende Bedeutung der Massenmedien in der zweiten Hдlfte des 20. Jahrhunderts, die weltweit ihre Zuschauer gewinnen kцnnen.

Gegen die Dominanz der politischen Geschichtsschreibung und deren Bearbeitung der Machtapparate und ihrer archivalischen №berlieferung in den Verwaltungen forderten um die Jahrhundertwende verschiedene historische Schulen in Europa eine Дin≠tegrative Kultur-, Sozial- und MentalitдtsgeschichteУ. In Deutschland tat dies vor allem Karl Lamprecht, der in Auseinandersetzung mit der Politik- und Ideengeschichte (ДLamprecht-StreitУ) eine ДKulturgeschichteУ forderte, die er letztlich als ДGeschichte der Psyche im Wechsel der Generationen einer gegebenen GesellschaftУ verstand. (Lamprecht 1900) Wesentlich erfolgreicher als Lamprecht in Deutschland waren in Frankreich die Historiker und Sozialwissenschaftler, die sich um die Zeitschriften ДRevue de Synthиse historiqueУ und besonders die ДAnnalesУ gruppierten.[14]

Die Jugendbewegungen seit Anfang des Jahrhunderts, wie ьberhaupt ДdieУ Jugend als Generation, schufen in diesen Wissenschaften ein Bewuяtsein von der Bedeutung generationeller Fragestellungen, die sich sowohl in zahlreichen Einzelforschungen wie auch in theoretischen №berlegungen zur Entwicklung prдgender Erfahrungen - von Familien, Gruppen und Generationen bzw. umgekehrt auch durch sie - niederschlugen. Karl Mannheims Arbeit zur Entstehung von Generationszusammenhдngen oder Generationen aus den zwanziger Jahren ьbt bis heute einen tiefen Einfluя auf die Historiographie, Sozial- und Kulturwissenschaft aus. (Mannheim 1970) Das 20. Jahrhundert mit seiner Fьlle an generationellen Konflikten und ihren Nutzungen auch in der Politik[15] zeigte insgesamt, wie bedeutsam ДGenerationenlagerungenУ in der Geschichte geworden sind. Gegenwдrtig kann man von einer Renaissance generationeller Fragestellungen, Theorien und empirischer Untersuchungen sprechen.[16]

Die Bedrohungen durch den Faschismus bzw. den deutschen Nationalsozialismus fьhrten zu weiteren Untersuchungen von Massenphдnomenen sowohl durch Historiker und Psychologen wie durch Soziologen und Politikwissenschaftler. Die ДMassen≠psychologie des FaschismusУ[17] hat nicht nur die Hochschulen beschдftigt, sondern auch politische Parteien, besonders der Arbeiterbewegung. Selbst in politischen Zeitschriften, die dem Kommunismus nahestanden, wurde das Verhдltnis von Marxismus und Psychoanalyse in den zwanziger Jahren diskutiert, Diskussionen, an denen sich sogar ein Parteivorsitzender beteiligte.[18] Auch in anderen damaligen und spдteren Debatten um ДMarx und FreudУ ging es zumeist um das Verhдltnis von Geschichte und Psychologie bzw. Psychoanalyse.[19]

Die Faschismus-Analysen befцrderten eine weitere Forschungsrichtung, die interdisziplinдr zwischen Soziologie und Psychologie bzw. Sozialpsychologie und Geschichte changierte: Untersuchungen zum politischen Bewuяtsein[20] bzw. zu politischen Haltungen, zu Vorurteilen und ihren charakterlichen Typologien[21] oder gar gesellschaftlichen Charakteren[22] Besonders einfluяreich waren hier die Vertreter der ДFrankfurter SchuleУ, die zumeist selbst historisches, soziologisches, psychologisches, ьberwiegend psychoanalytisches, Rьstzeug mitbrachten. Die Untersuchung ьber die autoritдre Persцnlichkeit[23] von Adorno (wдhrend seiner Emigration[24]) und anderen war hier richtungweisend, obwohl Adorno sie spдter ДrelativierteУ. Diese Arbeit wurde kontrovers aufgenommen, zum Teil mit дuяerster Schдrfe in den USA kritisiert, vor allem deshalb, weil der autoritдre Charakter als Voraussetzung fьr extrem konservative bis faschistoide Bewegungen auch auяerhalb Deutschlands oder Italiens ДentdecktУ bzw. untersucht wurde.

In den zwanziger Jahren erlebte auch die Diskussion um eine Grundfrage von Historikern an (Sozial-)Psychologen einen Hцhepunkt, nдmlich die Frage nach Gedдchtnis und Erinnerung. Gemeint war sowohl das Gedдchtnis von einzelnen als auch von Gruppen oder Nationen; denn die Bedeutung kollektiver Erinnerungen und nationaler Mythen fьr die Politik bzw. politische Instrumentalisierungen war offenbar geworden. Eines der einfluяreichsten Werke ьber individuelles und kollektives Gedдchtnis entstand bereits in jenen Jahren, die Arbeit von Maurice Halbwachs ьber die sozialen Bedingungen des Gedдchtnisses. (Halbwachs 1925/1966) Fragen nach dem Gedдchtnis[25] waren nicht neu in der Geschichtswissenschaft und zu Beginn auch (noch) nicht verdдchtig. Die Geschichtsschreibung war sich gerade in ihrer Frьhzeit bewuяt, daя Geschichte etwas mit Erinnerung und Gedдchtnis zu tun hat, daя Erinnern ein schцpferischer Akt ist und daя die (schriftliche oder rhetorische) Vergegenwдrtigung des Vergangenen Д№bung, Intuition und ErfahrungУ verlangt. Das Gedдchtnis wurde - nach dem Zitat aus dem Ad Herennium aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert - als ДSchatzkammer der ErfindungenУ (!) bezeichnet.[26] Und es waren auch nicht erst die historistischen Schulen, die Biographien und Erinnerungen als historische Quelle nutzten. Ein bekanntes Beispiel dafьr lieferte die Zeitzeugenbefragungen eines der Ahnvдter der modernen franzцsischen Historiographie, Jules Michelet, der im Rahmen seines Anspruchs auf universelle Geschichtsschreibung persцnliche Berichte als Quellen nutzte, die ДErzдhlungen der GreiseУ, so Michelet 1847 im Vorwort seiner ДGeschichte der Franzцsischen RevolutionУ.

Die scharfe Trennung jedenfalls zwischen individuellen (ДpsychologischenУ) und ьberindividellen (Дhistorisch-politisch-gesellschaftlichenУ) Feldern wurde immer fragwьrdiger. Individuen verhielten sich im Kollektiv, und Kollektive schienen individuellen Mustern zu folgen, die ДungleichzeitigУ zur unmittelbaren Politik, z.B. je nach individueller oder generationenspezifischer Vorerfahrung, verliefen.[27] Auch die Historiker und Historikerinnen fielen in ihrer individuellen, geschlechts- oder schichtenspezifischen Prдgung unter solche Problemstellung - und damit die Bedingtheit der Geschichtswissenschaft selbst.


[13] Alice v. Plato betont als Ursachen dieser Entwicklung neben der Bedeutung des Massenpublikums auch die ethnologischen und anthropolischen ДUmwegeУ der Geschichtswissenschaft. (Alice v. Plato 1999).

[14] 1900 grьndete der Philosoph Henri Berr die Zeitschrift ДRevue de Synthиse historiqueУ. Ihr erklдrtes Ziel: die Geschichte aus der ДmetaphysischenУ in das wissenschaftliche Stadium zu ьberfьhren, die verschiedenen Spezialgebiete zu koordinieren und letztlich eine historische Sozialpsychologie als Gipfel dieser Entwicklung auszuarbeiten. In Auseinandersetzung mit der politischen Geschichtsschreibung in Frankreich und mit der ДRevueУ wurde 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch die Zeitschrift ДAnnales dТhistoire йconomique et socialeУ begrьndet, die sich eine integrierende Kulturgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf die Fahnen geschrieben hatte, an der Lucien Febvre seit 1910 und kurz danach auch Marc Bloch gearbeitet hatten. (Vgl. M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a. 1977, darin die informative Einleitung von Claudia Honegger, 7 ff., oder auch Iggers 1971).

[15] Man denke nur - neben der Дbьndischen JugendgenerationУ - an die ДHJ-GenerationУ oder die Д68er GenerationУ, die als eigenstдndige Begriffe nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Massenmedien Bedeutung bekamen.

[16] Vgl. die ausgewдhlten einschlдgigen Titel in der Literaturliste.

[17] Am bekanntesten wurde die gleichnamige Arbeit von Wilhelm Reich (hier 1974). Insgesamt wurden die Arbeiten aus der ДFrankfurter SchuleУ bedeutsam. Vgl. auch Hьgli 1992. Allgemein zur Wissenschaft im Nationalsozialismus vgl. u.a. Lepenies 1986.

[18] August Thalheimer (KPD) in ДUnter dem Banner des MarxismusУ 1923.

[19] Vgl. u.a. Bernfeld 1971, Wyss 1969, Wieser 1981, Fromm 1985, Lepenies 1971.

[20] Erich Fromms sozialpsychologische Untersuchung ьber die Arbeiter und Angestellten am Ende der Weimarer Republik (1980). Vgl. allgemein zum politischen Bewuяtsein v. Borries 1994.

[21] Horkheimer 1963 ьber das Vorurteil.

[22] Beispielsweise Erich Fromms Studien zum Gesellschaftscharakter 1981.

[23] Adorno 1969 und 1977.

[24] Zu den deutschen Historikern in der Emigration vgl. immer noch Iggers 1974

[25] Vgl. dazu auch Nora 1990, Platt/Dabag 1995.

[26] Nach Francis Yates (1966, 5).

[27] Besonders einfluяreich wurden Ernst Blochs Beschreibungen in ДErbschaft dieser ZeitУ, beispielsweise in dem Kapitel zur Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen (Bloch 1973)

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