BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Eigentlich hдtte gerade in Deutschland nach den beiden Weltkriegen und besonders nach den Verbrechen des Nationalsozialismus, nach den Kriegserfahrungen und nach den Zwдngen zur Neuorientierung in der ДEntnazifizierungУ oder spдter der ДEntstalinisierungУ mit ihren autobiographischen Schreib- und Erklдrungszwдngen ДSubjektivitдtУ als Gegenstand der Historiographie die historische Zunft stark beschдftigen mьssen. Das war jedoch kaum der Fall, obwohl mit den hдufigen politischen Systemwechseln Geschichte neu geschrieben, bewertet oder prдsentiert worden war. Daher muя man sich auch am Beispiel dieser Thematik fragen, ob die historische Prдgung (oder die generationelle Zugehцrigkeit) von Historikern, ihre historisch eingebundene Erfahrung, ihre eigenen Verarbeitungs- und Denkmuster als ДobjektivУ verschleiert werden, anstatt zum Objekt historischer Forschung gemacht zu werden. Wird Geschichte gar - wie Lucien Febvre bereits 1923 fragte - nur ДrekonstruiertУ oder gar konstruiert (siehe unten), und zwar von Historikern und ihrem historischen Bezugssystem? Einer der Begrьnder der ДAnnalesУ, Marc Bloch, selber ein Verfechter von Verstehensversuchen, hat gefordert, daя Дman sich nahezu seines eigenes Ichs entledigenУ mьsse, um in ein fremdes Bewuяtsein einzudringen. Im Deutschland der Nachkriegszeit wollten viele aus der nachfolgenden Akademiker-Generationen vermutlich nicht in dieses fremde Bewuяtsein ihrer Elterngeneration eindringen. An dieser Stelle wird ein weiteres Grundproblem historischer Verstehensversuche sichtbar: Eine Entledigung des eigenen Ichs erscheint nahezu unmцglich, wenn zugleich von einem Дkreativen SchцpfungsaktУ der Erinnerung, des Gedдchtnisses und der Geschichtsschreibung ausgegangen wird. Hier bestehen Ambivalenzen zwischen Erinnern, Verstehen und Rekonstruieren, die in jeder historischen Untersuchung berьcksichtigt werden mьssen - insbesondere dann, wenn zu dieser Selbstentledigung generationelle Befangenheiten gehцren.

Mдrchen, Literatur, nationale Mythen in der jeweils spezifischen Sprach- und Erzдhlform liefern die Guяformen fьr die Erinnerung und deren erzдhlte oder geschriebene Vermittlung.[28] Auch die deutsche Geschichte bietet eine Fьlle von Beispielen fьr die Bedeutung kollektiv-nationaler Mythenbildung und deren massenwirksame Inszenierungen fьr politisch-soziale Bewegungen. Man denke nur an die ДDolchstoя≠legendeУ und die Selbstgewiяheit, Opfer internationaler Unterdrьckung durch den Versailler Vertrag geworden zu sein in den zwanziger und dreiяiger Jahren. Wie in jedem Land scheinen die Helden- und die Opfermythen aus dem nationalen Historienschatz abrufbar zu sein - ganz im Gegensatz zu den Leiden, die die eigenen Heldentaten anderen Nationen oder Nationalitдten zugefьgt hatten. Die deutsche Geschichte nach 1945 ist voll von diesen Wahrnehmungsbeschrдnkungen: Der Holocaust an den europдischen Juden schien den meisten Deutschen nahezu wie eine Fortsetzung der feindlichen Kriegspropaganda. Es brauchte fast eine Generation, ehe sich Kenntnisse ьber die Schoah oder auch ьber die Sinti, die Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene in Deutschland entwickeln und in der ÷ffentlichkeit durchsetzen konnten, und dann waren die Vorwьrfe ьber Schuld und Verdrдngung scharf gegenьber der дlteren Generation. In den folgenden unzдhligen Debatten um ДSchuldУ, ДVerdrдngungУ oder ДSchamabwehrУ wird die Nдhe zur Psychologie bzw. zur Psychoanalyse besonders sinnfдllig, denn diese Begriffe entstammen dem genuinen psychoanalytischen Kategoriensystem.[29]

Ein anderes Beispiel: Was den Russen als brutaler deutscher Vormarsch entgegenschlug, erschien in den deutschen Kriegserzдhlungen als Bewдhrung oder gar Heldentat. Umgekehrt sind fьr russische Kriegsteilnehmer bis heute der ДGroяe vaterlдndische KriegУ und seine Opfer auch dann durch die antifaschistische Sinngebung geweiht, wenn es um die Greuel der Roten Armee an Polen oder anderen Nationen geht. Oder genauer: Diese Seiten des sowjetischen Vormarsches blieben Marginalien und fanden nur selten Eingang in die sowjetischen und sogar in die russischen Kriegsgeschichten.

Deutsche Leidenserzдhlungen aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zдhlen Legion, wдhrend die sowjetischen Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft, insbesondere die ungeheure Zahl der Toten unter ihnen[30], nahezu unbekannt blieben und erst spдt wissenschaftlich belegt wurden. ƒhnlich war es mit den Zahlen zu den Zwangsarbeitern[31], so daя es Anlдsse zur Genьge gab, weshalb psychoanalytische Kategorien, besonders die der ДVerdrдngungУ, in der Nachkriegszeit nicht nur auf Individuen angewandt wurden, sondern auf groяe Teile der Gesellschaft.

Die Untersuchungen von Traumatisierungen durch KZ-Haft fьhrten zu einer eigenen Traumaforschung, die verwandt wurde auch im Bereich von Kriegsfolgen, Genoziden und Folter. Diese Traumaforschung nutzte - das liegt auf der Hand - psychologische, auch psychoanalytische Theorien.[32]

ДKollektive MentalitдtenУ, Erinnerungen und Дkollektives GedдchtnisУ[33], Mythen, Opfergeschichten und Heldenerzдhlungen haben also in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung psychologische Implikationen und gehцren fundamental zu der Geschichtsbetrachtung, die sich als Mentalitдts- und Erfahrungsgeschichte erst in jьngerer Zeit in Deutschland behaupten konnte. Wдhrend in anderen Lдndern, besonders in Frankreich und in den anglo-amerikanischen Staaten, in den dreiяiger Jahren und in der Nachkriegszeit mentalitдtsgeschichtliche oder alltagsgeschichtliche Untersuchungen ihren Platz in der Historiographie fanden, war dies in den Nachkriegs-Deutschlands anders. Im Osten war der ДSubjektivismusУ in der Dogmatisierung des Marxismus ohnehin verpцnt, im Westen herrschte zunдchst - auch und besonders in der Erforschung des Nationalsozialismus - eine politikgeschichtliche Dominanz, in der Mentalitдten kaum vorkamen. Dabei war der ДHauptkontinuitдtsfaktorУ nach 1945 - so Lutz Niethammer - Дdas VolkУ. Nach den Involvierungen in den Nationalsozialismus und den anschlieяenden Legitimationen und Exkulpationen waren die Subjekte verdдchtig geworden, Akten und andere schriftliche Berichte wurden mit geringerem Miяtrauen betrachtet. Die Erfahrungen groяer Bevцlkerungsteile aus der schweigenden Mehrheit, aber auch aus den den Nationalsozialismus tragenden Eliten blieben auяerhalb der Wahrnehmung oder wurden mit dem Verdikt der Unterschдtzung des Nationalsozialismus versehen. Aber erfahrungsgeschichtlichen Forschungen ging es eben auch um die Untersuchung der Elemente der Attraktion, des Дsozialen KittsУ im Nationalsozialismus und damit um eine tiefere Erkenntnis seiner Wirksamkeiten. Auf diese Weise sollten u.a. Differenzierungen entstehen zwischen denen, die Verantwortung getragen haben, und jenen, die Objekte der Politik wurden oder sich durch die Zeiten ДgemogeltУ hatten ohne dieses Maя an Verantwortung.

Es waren gerade die Forschungen ьber den Nationalsozialismus, die die politikgeschichtliche Dominanz seit den sechziger Jahren zumindest aufbrachen zunдchst durch sozial-, ideologie- und kulturgeschichtliche Studien[34], schlieяlich auch durch erfahrungs- oder mentalitдtsgeschichtliche Untersuchungen.[35] Beteiligte Eliten und ihre Reprдsentanten, Opfer und Widerstandskдmpfer wurden untersucht, Anfang der achtziger Jahre kamen Forschungen ьber die Erfahrung des Nationalsozialismus, auch seiner Anziehungskraft bei verschiedenen Bevцlkerungsgruppen hinzu[36], schlieяlich Personen, die als Tдter eingestuft wurden, und die Kinder bzw. Kindeskindern von Opfern und Tдtern.[37]

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands gab es eine explosionsartige Zunahme von erfahrungsgeschichtlicher und biographischer Literatur. Sie forcierte alle Fragen nach individuellen und kollektiven Erinnerungen, nach Identitдten, nach verschiedenen Erinnerungskulturen, nach dem Einfluя von politischen Systemen auf das Leben und das Bewuяtsein von Individuen und Gruppen, Fragen von Erinnerung und Legitimation des persцnlichen Verhaltens in Diktatur und Demokratie usw.[38]

 


[28] Vgl. Fromm 1984, fьr die jьngere Diskussion vor allem Lehmann 1983, Lehmann 1973 oder fьr den hier dargestellten Zusammenhang: Straub 1998.

[29] Und das Buch, das mit diesen Theorien den ДNerv der ZeitУ traf, war von Psychoanalytikern geschrieben worden, nдmlich von den Mitscherlichs ьber die Unfдhigkeit zu trauern. (Mitscherlich 1967)

[30] Den meisten Deutschen war unbekannt, daя von den 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen bis zum Kriegsende 3,3 Millionen in deutscher Gefangenschaft umgekommenen sind. (Streit 1978, Einleitung, oder auch Keller/Otto 1998).

[31] Belegte Schдtzungen gehen von ca. 12 Millionen Zwangsarbeitern aus; noch bei Kriegsende waren ca.10 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter in Deutschland (Herbert 1985)

[32] So arbeitet eine ДInternatioal Study Group for Trauma, Violence and GenocideУ, angegliedert dem Hamburger Institut fьr Sozialforschung, mit Archiven, die in Jerusalem oder an der Harvard-Universitдt Zeugnisse von Holocaust-№berlebenden sammeln, zusammen. №berwiegend sind dies Forschungen ьber Traumatisierungen in deutschen KZs (z.B. Gдssler 1993), ein anderes Beispiel: der Genozid an Armeniern mit traumatischen Erfahrungen der №berlebenden (Abels 1991, Dabag/Platt 1993).

[33] Die Bedeutung und der Zusammenhang dieser Themen zeigt beispielsweise die eigene Reihe des Suhrkamp-Verlages mit dem Titel ДErinnerung, Geschichte, IdentitдtУ.

[34] Vgl. vor allem Wehlers einschlдgige Arbeiten (Wehler u.a. 1976 und 1998) oder die frьhen Untersuchungen von Ernst Nolte zu den faschistischen Bewegungen und ihren Ideologien oder zu den Theorien ьber den Faschismus (Nolte 1967und 1968).

[35] Vgl. in der Literaturliste u.a. Arbeiten von Alheit, Fischer-Rosenthal, Herbert, Hoerning, Leh, Lehmann, Mцding, Niethammer, v. Plato, Rosenthal, Schrцder, Wierling/Brьggemeier, Zimmermann.

[36] Zum Beispiel Hartewig 1993, Mцding 1985, Niethammer 1983 a und b, Niethammer/v. Plato 1985, 1995.

[37] Beispielhaft fьr eine ДTдter-UntersuchungУ wurde die Arbeit von Ulrich Herbert ьber den fьhrenden ДSS-TechnokratenУ Best (Herbert 1996). Zu den Kindern vgl. u.a.: Universitдt Wuppertal 1988, Rosenthal 1997.

[38] Die Literatur ist zahlreich, daher nur eine kleine Auswahl: Domansky 1992 und 1993, Kocka mehrfach seit 1991, Niethammer/v. Plato/Wierling 1991, Hoffmann/Rink 1993, v. Plato 1991 und 1993a und b., Vester 1995, v. Wensierski 1993 und 1994. Die Zeitschrift BIOS hat mehrfach zu verschiedenen Problemen der Entwicklung nach der Vereinigung Aufsдtze abgedruckt, so von Wensierski zur Stasi, Simon zu Psychotherapeuten, Bois-Reymond zur Kindheit.

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