BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Aufgaben

Der Einfluя der Psychoanalyse auf die Geschichtswissenschaft ist besonders dort spьrbar, wo die Psychoanalyse theoretische Hilfen gibt fьr Fragen der Wahrnehmung, der Erfahrung, Verarbeitung und Verdrдngung, der bewuяten und unbewuяten Motive unseres Handelns, fьr Untersuchungen des Gedдchtnisses in verдnderten Zeiten mit unterschiedlichen Maяstдben, des Erinnernwollens und -kцnnens. Psychoanalytiker sehen die theoretische Bedeutung der Psychoanalyse fьr die Historiographie hauptsдchlich in der Untersuchung der Wirkung des Unbewuяten in der Geschichte, und zwar in der Untersuchung der Erinnerung wie der Handlungsmotive sowohl einzelner wie ganzer Gruppen oder Gesellschaften.

Angesichts des immer noch grassierenden Dilettantismus bei Historikern hinsichtlich psychoanalytischer Kenntnisse und Verfahren ist der Stellenwert psychologischer, auch der psychoanalytischen Fragestellungen und Methoden fьr die Geschichtswissenschaft in den verschiedenen genannten Feldern durchaus hervorzuheben. Bereits Wehler sah die Bedeutung der Psyschoanalyse nicht nur in Untersuchungen von Individuen, sondern auch in der Erforschung von Kollektivmentalitдten und Sozialcharakteren, von Sozialprofilen bestimmter Gruppen und Eliten sowie in der Biographik, wobei er eine Дhistorisch-sozialpsychologisch orientierte PsychoanalyseУ meinte und weniger die Дindividualistische PsychoanalyseУ. (Wehler 1974, Vorwort, 5 f.)

Eines der historischen Felder, in der die Psychoanalyse relevant wurde, besteht - das liegt auf der Hand - in historischen Biographien, in denen die Protagonisten in ihrer historischen Umwelt beschrieben wurden. Am bekanntesten wurden die Arbeiten von Erikson ьber den jungen Luther oder von Gay ьber Freud, die geradezu beispielhaft fьr eine Reihe anderer wurden.[49] Dagegen hat die Psychoanalyse eher implizit als explizit Eingang in die Autobiographie- bzw. Biographieforschung[50] gefunden. Hier stehen Analysen im Vordergrund, die ьber die Interpretation von einzelnen Personen hinausgehen.

Weitere Felder liegen in den Beschreibungen ganzer Gruppen, Professionen, Generationen usw.[51], ihren Orientierungen, Stil-, Gefьhls- oder Geschmacksentwicklungen[52] sowie kollektiver Mentalitдten, eines kulturellen Gedдchtnisses[53] und ihrer Verдnderungen. Hier stellt sich die grundsдtzliche Frage: Wie entstehen kollektive Erinnerungen oder gar kollektive Erinnerungs- und Gedenkkulturen[54]? Unter anderem wegen der Beschдftigung mit Nationalsozialismus und Wiedervereinigung haben in der zeithistorischen Forschung die Debatten Konjunktur, in denen es um unterschiedliche Erinnerungskulturen, um kollektive Mentalitдten, um Identitдten ganzer Bevцlkerungen, hier also der DDR und der Bundesrepublik als Nachkriegsgesellschaften, geht. Um so erstaunlicher ist es, daя die Diskussion um die Methoden zur Erfassung solcher Kollektivmentalitдten und um die Einbeziehung psychologischer Ansдtze in die Geschichtswissenschaft so wenig an Raum gewonnen hat.

Eine wesentliche Aufgabe der Kooperation zwischen Geschichtswissen≠schaftlern und Analytikern liegt in der Untersuchung des Verhдltnisses von Geschichtsschreibern zu ihrem Thema, in der Analyse ihrer Konstruktion von Vergangenheiten[55], ihrer Sicht auf die Geschichte, die eben abhдngt von ihren Motiven, von politischen Orientierungen, vom Geschmack, von den Werten und Interessen der spдter Geborenen. Das Maя ihrer ДProjektionenУ und Д№bertragungenУ bzw. ДGegen≠ьber≠tragungenУ gilt es zu bestimmen - wiederum hдufig bewuяt oder unbewuяt benutzte Begriffe aus der Psychoanalyse, die zum Allgemeingut in den verschiedenen einschlдgigen Wissenschaften geworden sind. Diese Aufforderung richtet sich besonders an Untersuchungen, die Zeitzeugen befragen.[56] In solchen Untersuchungen sind Д№bertragungenУ bzw. ДGe≠genьbertragungenУ nicht nur Gefahren, sondern Teil der Quelle, Teil der Forschung selbst und verlangen nach professioneller Interpretation[57], wie auch in anderen Дkommunikativen TradierungenУ von Werten oder politischen Haltungen, z.B. zwischen den Wissenschafts-Generationen.[58]

Hier liegt einer der Grьnde fьr die Mindestanforderung einer Kooperation zwischen Historikern und Psychologen bzw. Psychoanalytikern, nдmlich die nach Supervision. Damit ist Beobachtung, Prьfung und Beratung durch psychologisch bzw. psychoanalytisch erfahrene Personen gemeint vor allem in jenen historischen Forschungsprojekten, die Befragungen durchfьhren. Die Hauptaufgaben einer Supervision wдren: Beratung der Wissenschaftler im Verhдltnis zu Zeitzeugen und der Wissenschaftler untereinander, bei der Entwicklung der Fragelisten, den Auswahlbegrьndungen und bei der Interpretation der Interviews. Eine solche Supervision wьrde das Bewuяtsein der spezifischen Probleme u.a. zwischen den Generationen in den von №bertragungen und Gegenьbertragungen in besonderer Weise beeinfluяten Befragungen schдrfen, wie bei der Erforschung des Nationalsozialismus.[59] Inzwischen gibt es eine Reihe historischer Forschungsprojekte, die Supervisionen versucht haben, wie das Projekt ьber die ДJahrhundertgenerationУ der freideutschen Jugend[60] oder ьber das ДErbe der NapolaУ[61] (s.u.).

Eine Kooperation zwischen Psychoanalytikern bzw. Psychiatern und Historikern hat sich - wie angedeutet - bewдhrt in der Erforschung der Verarbeitung und der Nachwirkung von Traumata in Individuen und in Gesellschaften. In Amerika erlebte diese Forschung in der Nachfolge des Vietnam-Krieges einen Hцhepunkt, in Deutschland war diese Forschung eng verknьpft mit den Opfern des Nationalsozialismus, ging aber weiter in der Erforschung von Kriegs- oder von Fluchttraumata, inzwischen auch von Nachwirkungen bei den Kindern und Enkeln der Traumatisierten. [62] 


[49] Eriksson 1989 (1958) oder auch zu Gandhi bzw. den Ursprьngen der Gewaltlosigkeit (1978), Gay 1986 und 1994 (oder zu Voltaire 1988). Vgl. auch Bernfeld 1981, Cremerius 1971. Siehe auch das Mammutwerk im K.G. Saur Verlag: ДDeutsches Biographisches ArchivУ (1982 - 1985), bzw. ДDeutsches Biographisches Archiv. Neue Folge (1989 - 1993), ДInternationales Biographisches ArchivУ (mit den deutschen sind bisher 17 Bдnde erschienen).

[50] Vgl. vor allem die Bibliographie von Charlotte Heinritz (Biolit) in BIOS 1 und 2, 1989, 1989; Alheit/Fischer-Rosenthal/Hoerning 1990 oder Krьger/Marotzki 1996; methodologisch: u.a. Nassehi 1994.

[51] Vgl. die Angaben in der Literaturliste zu Generationsfragen. Den anderen Weg, bestimmte Berufsgruppen ohne Zuhilfenahme der Psychoanalyse, zu untersuchen gingen z.B. Durth 1972, Jarausch 1990 und - ganz anders fьr Wissenschaftler nach der Wiedervereinigung - Kocka/Mayntz 1998 bzw. Kocka 1998 zu Universitдten und Eliten im  Osten nach 1945. Vgl. auch Wehler 1990 zu Medizinern im ДDritten ReichУ.

[52] Psychoanalytisch orientiert: Peter Gays Bourgois Experience (1986 und 1987), zumindest psychoanalytisch informiert: Schivelbusch 1980.

[53] Vgl. die entsprechenden Arbeiten von Aleida und Jan Assmann.

[54] Vgl. u.a. Hoffmann 1995.

[55] Loewenberg 1995 und 1996, am schдrfsten pointiert in den frьhen Schriften von Hayden White.

[56] Die therapeutischen Hilfen jedoch, die manchmal von Zeitzeugen nach ihren Berichten ьber traumatische Erlebnisse an Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen herangetragen werden, ьberfordern sie zumeist.

[57] Vgl. dazu Ulrike Jureit in diesem Heft oder auch Annette Leo (mьndlicher Vortrag auf der Tagung ДPsychologie und Geschichte - Oral History und Psychoanalyse IIУ im Institut fьr Geschichte und Biographie der Fernuniversitдt Hagen).

[58] So der Titel einer Konferenz, die im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen 1998 abgehalten wurde und deren Ergebnisse von Elisabeth Domansky und Harald Welzer 1999 verцffentlicht werden. Vgl. auch Welzer 1997.

[59] Diese Forschung wurde zu einem nicht unerheblichen Teil seit den siebziger Jahren von Kindern jener Eltern gemacht, die den Nationalsozialismus erlebt und in ihm agiert hatten.

[60] Autsch, Lobinger,Reulecke (Projektleiter) und Seidel 1998 mit Thomas A. Kohut als Supervisor.

[61] Schneider, Stillke, Leineweber 1997 mit Werner Bohleber und Ilany Kogan als Supervisoren.

[62] Zu den Traumata bei Naziopfern siehe Mьller-Hohagen 1988, bei den Nachkommen von Naziopfern und Flьchtlingen: Universitдt Wuppertal 1988 bzw. Herzka, von Schumacher, Tyrangiel 1989.

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