BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Sind wir denn unserer selbst und unserer Zeit so sicher, daя wir unsere Vдter in Gerechte und Verdammte zu unterscheiden vermцgen? [69]

 

Dies schrieb Marc Bloch kurz vor seiner Verhaftung durch die Gestapo in Lyon und seiner Erschieяung 1944. Er wurde, meint Christian Schneider,

 

erschossen von Deutschen der Generation unserer Vдter. Was bedeutete das fьr die Sicherheit unseres Urteils ьber diese? Sind wir wirklich unserer selbst und unserer Zeit so sicher, daя wir sie in Gerechte und Verdammte zu scheiden vermцgen? ДWir verurteilenУ, sagt Bloch, Дviel zu viel, selbst in unserem Handeln. Es ist so einfach, 'An den Pranger!' zu rufen. Wir verstehen niemals genug.У Verstehen wir - fragt Schneider im Anschluя an dieses Bloch-Zitat - genug von unseren Vдtern? Gelingt es uns, in ihr Bewuяtsein ДeinzudringenУ? Und ist dieses Bewuяtsein tatsдchlich ein fremdes?[70]

 

Hier werden Kernpunkte der Debatte um Geschichte und Psychoanalyse offenbar: Wie bestimmen Werturteile unsere Verstehensversuche - wobei die Verstehensversuche von Mitlebenden und Trдgern des Nationalsozialismus durch die nachfolgende Generation[71] nur ein Sonderfall des allgemeinen Problems sind. Ich begreife dieses Bloch-Zitat eher als einen Aufruf zu einer Empirie, die sich selbst kritisch in Frage stellt, die von den ersten Interpretationen abweichende oder dazu gegensдtzliche Thesen versuchen sollte. Dazu gehцrt der Gedanke, sich des eigenen Ichs in diesem Prozeя mцglichst weitgehend zu entkleiden, als kaum einlцsbarer, aber dennoch notwendiger Anspruch, die Motive und Intentionen, die Entscheidungen und Weichenstellungen in den Berichten von Zeitzeugen fast induktiv zum Ausgangspunkt unserer Interpretation zu machen.

Ich verstehe diese Zeilen auch als leise Selbstkritik Schneiders, da das Buch ДDas Erbe der NapolaУ, an dem er wesentlich beteiligt war, Elemente von Vorverurteilung der Befragten durch Angehцrige der nachfolgenden Generationen enthдlt, zum Teil ohne die Selbstinterpretation der Interviewten zunдchst deutlich fьr sich zu Wort kommen zu lassen, ehe sie zum Gegenstand psychoanalytischer Interpretation von Angehцrigen der nдchsten Generation wird.

Es besteht immer in solchen Sets und ihren Interpretationen die Gefahr, sich quasi objektiv auяerhalb dieses generationellen Konfliktzusammenhangs zu beschreiben, sich zur moralischen Instanz gegenьber der vorherigen Generation zu machen, zum Beispiel jedem Zeitzeugen die Elemente der Tдterschaft im Nationalsozialismus zu unterstellen, und damit ДdieУ Deutschen auf die zwei Gruppen zu reduzieren, die Tдter und die Opfer. Zeitzeugen hдtten dann nur geringe Chancen, sich selbst anders zu erklдren: Jede von dieser Interpretation abweichende eigene Erklдrung wдre psychoanalytisch leicht als Exkulpation oder Legitimation, Verdrдngung oder Abwehr nach narzistischer Krдnkung interpretierbar. Damit wьrde die Kritik an solcher Art Verallgemeinerungen als Bestдtigung der Theorie eingebaut werden kцnnen. Das Plдdoyer fьr Differenzierung durch andere Wissenschaftler kцnnte psychoanalyisch als Ausdruck der Haltung eines Mitglieds der Kindergeneration gedeutet werden, das die eigenen Eltern schьtzen will, oder als Abwehr unbewuяter Identifikationen mit dem Aggressor, also mit dem ДTдtervaterУ. Durch diese oder дhnliche Zurьckweisungen von Kritik, die die eigene Theorie bestдtigt, wьrde aus einer hermeneutischen Methode eine hermetische werden. Hier mьяte u.a. eine Supervision ansetzen, die sich eben auch und gerade auf das Verhдltnis von Zeitzeugen und ihre Interpreten bezieht.

 

Zwei Schluяbemerkungen: Meine Bedenken richten sich zwar gegen voreilige Generalisierungen durch Psychoanalytiker, aber nicht gegen die Mцglichkeiten der Psychoanalyse als heuristisches Instrument in mentalitдtsgeschichtlichen oder biographischen bzw. autobiographischen Untersuchungen, als Theorie ьber Erinnerungen und das Gedдchtnis oder ьber die Wirkung von unbewuяten Motiven in der Geschichte. №berdies helfen Erfahrungen aus der Psychoanalyse, das Bewuяtseins fьr unsere eigene Rolle in diesem Set von ДErfahrungsgeschichteУ zu schдrfen. Aber die Psychoanalyse als Therapie ist ein langer dialogischer Prozeя, unsere Befragungen zumeist kurz und im Vergleich wenig dialogisch, psychoanalytische Deutungen werden erst im nachhinein angeboten, zumeist nicht - anders als in der Therapie - im Gesprдch mit den Befragten selbst. In diesen Interpretationszusammenhдngen besteht die Gefahr, daя das Unbewuяte wenig kontrolliert gegen die bewuяten Motive gestellt oder gar als schwer ьberprьfbares Interpretationsinstrument ins Feld gefьhrt wird und Raum lдяt fьr Projektionen von Historikern.[72]

Um so mehr mьssen vorsichtige Haltungen in der psychoanalytisch verallgemeinernden Deutung entwickelt werden. Es sollte immer geprьft werden, inwieweit diese Instrumentarien plausible Erklдrungen in den Generalisierungen anbieten, ob anders fundierte Interpretationen ebenfalls schlьssig wдren, ob Untersuchungen mit anderem Ansatz widersprechende Ergebnisse vorlegen, ob nur eine Tendenz unter den Befragten mit einer bestimmten Deutung ДerfaяtУ wird usw. Gerade in der qualitativen historischen Forschung muя eine Empirie entwickelt werden, die Kontrollierbarkeit mit einem Hцchstmaя an Offenheit fьr die Widersprьche, Ambivalenzen und Vielschichtigkeiten der Erfahrungen und Verarbeitungen von Geschichte verbindet, anstatt ein dogmatisiertes Ideengerьst deduktionistisch an Individuen heranzutragen - welcher Provenienz auch immer.

In deduktionistischen Vorgehensweisen steht ьberdies die Дhermeneutische FalleУ weit offen: Sie nehmen entweder die Aussagen der Befragten als ДdieУ Wirklichkeit, oder sie striegeln die Subjekte entsprechend ihrer Vorannahmen so glatt, daя sie nur als Illustrationen fьr anderswo gewonnene Thesen dienen oder daя von ihnen nur knцcherne Gerippen des Zeitgeistes oder die Prototypen der ДModal PersonalityУ der Historiker ьbrigbleiben.

Die zweite Schluяbemerkungen: Ebensowenig wie Geschichte auf Erfahrungsgeschichte reduzierbar ist, ebensowenig verlangt jede historische Fragestellung nach psychologischen Methoden, und nicht jedes historisch-psychologische Problem benцtigt die Psychoanalyse. Es ist sehr genau zu prьfen, welche historischen Umstдnde mit Hilfe psychologischer Ansдtze plausibel erklдrt werden kцnnen und welche psychologischen Theorien dafьr heranzuziehen sind, die Psychoanalyse, die Sozialpsychologie, Sozialisations- oder entwicklungspsychologische Theorien. Den erkenntnis≠theoretischen Grundsatz, daя jedes Objekt spezielle Methoden zu seiner Untersuchung verlangt, gilt es auch hier anzuwenden - nicht weniger und nicht mehr.

 

 

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[69] Schneider 1997 (Teil 2), 45.

[70] Die letzte Frage weist in umgekehrte Richtung:ДSind wir unseren Vдtern wirklich fremd?У scheint den Vorwurf so umzuwenden, daя auch die nachfolgende Generation Gegenstand eben der Vorwьrfe werden kann, die an die Eltern gerichtet waren.

[71] Vgl. u.a. Sellschop/Vogel 1994 oder Welzer 1997.

[72] Dadurch kann die nachtrдgliche Deutung unbewuяter Haltungen und Motive leicht verletzend wirken und zu Rьckzьgen der Befragten fьhren.

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