Terror und Widerstand unter den Bedingungen des Totalitarismus Ц die sowjetische und die deutsche Erfahrung

 

Zur Bestimmung der Begriffe und Grenzen

 

Was verstehen wir unter Widerstand? Das ist eine bewusste Nichtbefolgung von Regeln, die vom politischen Regime aufgestellt worden sind. In diesem Sinne kann man auch von Widerstand unter Bedingungen der Demokratie sprechen Ц Verweigerung des Armeedienstes, das Nichtbezahlen von Steuern, herausfordernde Bekleidung und Verhalten. Doch die Demokratie bietet den Menschen weit mehr Chancen fuer die Beteiligung am politischen Prozess, der Staat selbst lаedt seine Buerger ein, die Verantwortung fuer das, was geschieht, mit zu uebernehmen.

Unter Bedingungen des totalitаeren Regimes, das sich durch ideologische Unfehlbarkeit tarnt und bestrebt ist, den Typus eines Дneuen MenschenУ zu schaffen, ist der Rahmen fuer das Дschоepferische VerhaltenУ von oben vorgegeben und ausserordentlich begrenzt. Um so breiter wird das Spektrum des Nonkofmismus, oder wie die Politologen sagen, des Protestverhaltens. Im klassischen Modell des Totalitarismus als einer fuer das 20. Jahrhundert typischen Erscheinung[1] fehlt praktisch das Problem des Widerstandes gegen den Totalitarismus. Die Opponenten sehen darin zurecht die ДAchillesverseУ der totalitаeren Methodologie, sind aber bisher nicht in der Lag, ein positives Modell vorzuschlagen, das die Auseinandersetzung mit dem o.g. nicht scheuen muss. Meines Erachtens ist die Fragestellung nach dem ДWiderstand unter Bedingungen des TotalitarismusУ kein Nonsens, bedarf aber einiger Erklаerung.

Mir imponiert die Untersuchung von Totalitarismen, nicht die des Totalitarismus. Das birgt sowohl die notwendige Warnung vor der Gleichsetzung als auch die Ermunterung zum indirekten Vergleich, wobei das politikwissenschaftliche Modell als Vermittler, als Eichmass auftaucht. Im Unterschied zur nazistischen Diktatur fuegt sich das sowjetische System nicht so einfach in den Rahmen des totalitаeren Modellsein. Es genuegt, auf den Widerstand der russischen Bauern gegen die Kollektivierung hinzuweisen, an dem sich gleichzeitig mehrere Millionen Menschen beteiligten.[1]

Am nаechsten kam die Sowjetunion dem Totalitarismus von Mitte der 30er bis Mitte der 50er Jahre, d.h. in der Periode der Ein-Mann-Diktatur von Stalin. Auf diese Periode bezieht sich der im Vortrag verwendete Begriff ДStalinismusУ, der in der Fachliteratur auch umfassender verwandt wird.[1] Man kann von der Spezifik des Widerstandes gegen den Stalinismus sprechen, aber im Grossen und Ganzen war der Widerstand umfassender und war gegen die Einparteiendiktatur gerichtet, d.h. es war ein antikommunistischer Widerstand. Aus diesem Grunde werde ich im Vortrag den Rahmen der 30-50er Jahre von Fall zu Fall verlassen, um den Widerstand in einen umfassenderen Kontext einzubinden und seine Dynamik zu zeigen.

 

Wo verlaufen die Grenzen des Widerstandes? Dass die оeffentliche Meinung sehr feinfuehlig auf diese Frage reagiert, ist allen Anwesenden bekannt, Die Debatten ueber die Ausstellung 1994 und das Дintegrale Modell des WiderstandesУ haben das gezeigt.[1] Mir imponiert dieses Modell, weil die Ansichten der russischen Gegner des kommunistischen Regimes sich noch weniger als die der deutschen auf einen allgemeinen Nenner zurueckgefuehrt werden kоennen. Auch in diesem Falle kann man nicht vom Widerstand, sondern von Widerstаenden sprechen. Rufen wir uns die Bewegung der Weissen in Erinnerungen, denen durchaus keine Sympathie gegenueber der Demokratie nachgesagt werden kann, erinnern wir uns an Kronstadt: ДFuer die Sowjets, aber ohne KommunistenУ, erinnern wir uns an die Opposition innerhalb der KPdSU(B), die fuer einen Sozialismus ohne Stalin eintrat. Man kann lange darueber streiten, wer hier ein schlechter Gegner und wer ein guter Verbuendeter der neuen Macht war. Solange die neue Macht mit der Partei identifiziert wurde, kann man in den Widerstand alle diejenigen einbeziehen, die gegen die ideologisierte Parteidiktatur auftraten. Nachdem die Macht mit Stalin identifiziert wurde, kann man zum Widerstand auch die Opposition innerhalb der KPdSU(B) zаehlen, die gegen das Regime der persоenlichen Macht, und sei es auch unter dem Banner eines anderen, Дreinen KommunismusУ kаempfte. (Verglichen mit dem deutschen Widerstand Ц die Brueder Strasser gehоeren nicht dazu, wаehrend die Mitlаeufer wie der Chef des Generalstabes Beck u.a. dazu gehоeren.)

In Deutschland hat sich der demokratische Konsens in einer positiven und ganzheitlichen Beurteilung des Widerstandes gegen den Nazismus Дals Menschenrechtsbewegung, wo dafuer Verfassungsmittel fehlen, wo statt Gesetz die Willkuer regiertУ[1], durchgesetzt. Es ueberwiegt eine breite Sicht auf den Widerstand unter Bedingungen des Totalitarismus, einen Widerstand, der Дbewusste politische Opposition, gesellschaftliche Verweigerung und weltanschauliche DissidenzУ[1] in sich einschliesst. Auffassungen, nach denen die die Akteure des Widerstandes als Agenten auslаendischer Geheimdienste oder Vaterlandsverrаeter anzusehen sind, sind lаengst nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Debatten.

Anders in Russland. Hier gibt es nicht einmal einen minimalen Konsens in der Einschаetzung der sowjetischen Periode in der russischen Geschichte Ц fuer die einen bleibt sie ein mutiges gesellschaftliches Experiment, fuer andere ein Betriebsunfall oder eine gottgesandte Pruefung fuer die Vоelker des russischen Reiches. Deshalb verspricht die Akzeptanz oder Ablehnung des Terminus Widerstand gegen das Regime und seine Bewertung ein Feld zugespitzter Debatten zu werden, die im Russland von heute natuerlich auch eine politische Fаerbung haben. Es bleibt ein Versprechen, denn wissenschaftliche Arbeiten zum Thema gibt es in Russland praktisch nicht, es ist ein Stoff fuer Politiker und Publizisten. Die Frage, wohin mit Lenin, ist fuer sie immer noch wichtiger, als die Suche nach Splittern des von Lenin geschaffenen Systems in einem jeden von uns.

Wenn von der Quellenbasis meines Vortrages die Rede ist, so kann ich die Kollegen, die den deutschen Widerstand erforschen, nur beneiden. Von den Publikationen ganz zu schweigen. Es gibt in Russland nichts, was mit der Reihe ueber die Hochverratsprozesse[1] vergleichbar ist. Die kurze Zeit der Existenz des ДDritten ReichesУ hat dazu gefuehrt, dass in Deutschland bereits seit Ende der 40er Jahre Dokumente und Memoiren von Teilnehmern am antifaschistischen Widerstand verоeffentlicht wurden. Bei uns sind die Erinnerungen jener, die einen antikommunistischen Kampf fuehrten und Opfer der Repressalien in den Zwischenkriegsjahren wurden, die Ausnahme. Die blosse Niederschrift des Erlebten in unzensierter Form konnte den Verfasser wieder in den Gulag bringen. Die Reaktion der Staatsmacht auf die Tаetigkeit Solshenizyns, der gewissermassen Kоernchenweise Angaben ueber den ДArchipelУ zusammentrug, ist allgemein bekannt. Jetzt hat ДMemorialУ diese Arbeit auf sich genommen, aber wie viele gibt es noch, die in der Lage sind, zu erzаehlen, wie ihr Schicksal in den 20-30er Jahren gebrochen wurde? Aber auch auf den Ueberlebenden lastet die erlebte Angst und die Weigerung der russischen Gesellschaft, sich mit ihrer sowjetischen Vergangenheit zu beschаeftigen.[1]

 

Anstelle von Historiographie

 

Ich kann meinen Vortrag nicht mit einem noch so gerafften Ueberblick ueber die neueste russische Literatur zum Thema beginnen. Es gibt sie nicht. Daher mоechte ich mich darauf beschrаenken, eine Reihe von Mythen zurueckzuweisen, die eine weite Verbreitung in der оeffentlichen Meinung und in der Parteipropaganda Ц und das nicht zuletzt mit Hilfe von Berufshistorikern Ц gefunden haben.

 

Mythos Nr. 1. In der UdssR gab es keinen organisierten Widerstand gegen das politische Regime, mit Ausnahme des Kampfes der Ausbeuterklassen um ihre Existenz Ц ein Kampf, dessen Ausgang im Ergebnis des Buergerkrieges und der Stalinschen Kollektivierung gelоest wurde. Die errungene Homogenitаet der sowjetischen Gesellschaft machte jede Erscheinungsform von gesellschaftlichem Protest ueberfluessig und die Quellen fuer den politischen Protest wie ihn z.B. die Dissidentenbewegung verkоerperte, lagen in den Chefetagen der westlichen Geheimdienste. In entfalteter Form geistert diese Konzeption durch die Zeitungen der kommunistischen Opposition, der verbreitetste Ausdruck kommt in der These zum Ausdruck, dass ДGorbatschow ein CIA-AgentУ ist. Es eruebrigt sich fast darauf hinzuweisen, dass hier der Terminus ДWiderstandУ vоellig unangebracht ist und wenn er ueberhaupt verwendet wird, dann nur mit negativem Vorzeichen.

 

Mythos Nr. 2. Widerstand als gesellschaftlich relevante Grоesse ist unter Bedingungen des ДHochstalinismusУ unmоeglich, aus dem Protest Einzelner wurde in jenen Jahren nichts Grоesseres. Der Widerstand Дbegibt sichУ ausschliesslich in die Emigration und kehrt erst nach einer teilweisen Liberalisierung des Regimes im Zuge der Chruschtschowschen Reformen wieder (als Dissidentenbewegung) in die UdssR zurueck. Solche Auffassungen sind fuer Publizisten typisch, die den Gesellschaften nahestehen, die sich fuer die Opfer politischer Repressalien einsetzen und in der Regel die Unschuld dieser Opfer unterstreichen. Doch eine solche Position hat nur bei einer engen, ausschliesslich politischen Bestimmung des Widerstandes ihre Berechtigung. Gerade in der Periode des Stalinismus lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf seine massenhafte Erscheinung zu richten. Indem der Stalinsche Apparat jedem Mitglied der Gesellschaft immer rigidere Forderungen stellte, dehnte er den Rahmen nonkonformistischen Verhaltens aus.

 

Mythos Nr. 3. Der Widerstand der Gesellschaft, nunmehr im umfassendsten Sinne des Wortes, hat zum Zusammenbruch der Einparteiendiktatur in der UdssR gefuehrt. So spricht man in der Regel in den bruechigen Reihen der Verteidiger der Perestroika, wo man immer noch meint, westliche Demokratie und Leninschen Sozialismus vereinen zu kоennen. Die liberalen Westler, die in unserer juengsten Vergangenheit keine Stuetze fuer ihre Programme finden bedienen sich dieses Mythos, um die Dissidentenbewegung zu preisen. Meiner Meinung nach war das Ende der KPdSU das Ergebnis des misslungenen Versuches einer Reihe von Parteiidealisten, dass System, dessen sich die Pragmatiker aus der Partei bedienten, zu erneuern. Dank dieses Systems haben sie sich in historisch kuerzester Frist unermessliche Macht und Eigentum angeeignet. Und die russische Wirklichkeit von heute bringt solche Formen von Widerstand gegen die Willkuer der Staatsmaschinerie wie die Hinwendung zu Autoritаeten der kriminellen Welt oder die Wirtschaftsflucht (оekonomische Emigration) hervor.

 

Die wirkliche Geschichte des Widerstreits von Staat und Gesellschaft, Ideologie und Moral, deren wesentlicher Aspekt eben der Widerstand ist, bleibt ausserhalb des Kraftfeldes dieser Mythen. Mein Anliegen ist nicht, die Geschichte dessen zu erzаehlen, was noch unlаengst von der offiziellen Historiographie und dem Strafgesetzbuch als Дantisowjetische TаetigkeitУ bezeichnet wurde. Ich mоechte Ihnen einige Errungenschaften meiner russischen Kollegen vorstellen und die Ergebnisse der deutschen Geschichtsschreibung auf unsere Vergangenheit projizieren. Auf diese Weise lаesst sich ueberpruefen, ob die im Westen anerkannten Modelle auf Russland passen, ob man von allgemeinen Wesenszuegen des Widerstandes gegen die totalitаeren Regimes sprechen kann und welche nationalen Besonderheiten des Widerstandes es gibt.

 

Die Ideologie des Terrors und Formen des Widerstandes

 

Die fuer Anhаenger des Totalitarismusmodells so wichtige Ideokratie nаehert Stalinismus und Nazismus einander an, negiert die Rechtssicherheit der Persоenlichkeit und bringt ein positives Verhаeltnis zur Gewalt zur Erringung Дhоechster ZieleУ hervor. Hieraus resultiert der prаeventive Charakter ihres Kampfes gegen den potentiellen Widerstand Ц in die Konzentrationslager, die weder eine Erfindung der Bolschewiki noch der Nazis waren, wurden Menschen bestimmter nationaler oder gesellschaftlicher Kategorien oder politischer Auffassungen ohne Feststellung persоenlicher Schuld verbracht.

ДDie Ausnutzung der Idee zur Erringung seiner durchaus praktischen (und ohne ideelle Formierung strafrechtlich relevanter) Ziele ist das Geheimnis des TotalitarismusУ[1], stellt V. Kantor, Professor am Lehrstuhl Philosophie der Moskauer Fremdsprachenuniversitаet und Spezialist auf dem Gebiet des russischen gesellschaftlichen Bewusstseins, fest. Dieser Feststellung kann man nur nach einer wesentlichen Korrektur zustimmen: Eine Beschreibung der Ziele der Nazis oder der Kommunisten wird man im Strafgesetzbuch nicht finden, aber eine Beschreibung der zur Erringung dieser Ziele eingesetzten Mittel sehr wohl. Hier ist die Rede vor allem von Terror, der zu einer der zentralen staatlichen Funktionen sowohl bei Stalin als auch bei Hitler gehоert, auch wenn er eine unterschiedliche Begruendung erfаehrt.

Den ideologischen Wurzeln des bolschewistischen Terrors wandte ich mich zum Ende der Perestroika zu.[1] 1991 schien es, dass mit dem Zerbrechen der bolschewistischen Ketten, die die gesamte Gesellschaft umschlossen, letztere in ihrem demokratischen Wesen und in ihrer demokratischen Pracht und Schоenheit aufersteht. Dazu kam es nicht und die Historiker und Philosophen wandten sich daraufhin dem mongolisch-tatarischen Joch und Iwan dem Schrecklichen zu. Die Frage, auf die sie in der Geschichte eine Antwort suchten, war immer ein und dieselbe: warum war das russische Volk so gleichgueltig gegenueber der ihm angetanen Gewalt, warum sah es in der Gewalt das Recht der Macht, warum fand es sich damit ab und fоerderte sogar noch die Gewalt (die Denunziation war in Russland stets eine Form der Verbindung von Fuehrern und Volk). Im Ergebnis dessen entstand eine spezifische Typologie der Gewalt, in der Russland ein besonderer Platz zukam. Jahrhundertelang herrschte hier eine provokatorisch-bewachende Gewalt, die die Normen und die Ideologie der traditionellen Gesellschaft konservierte.[1]

Die repressive Tаetigkeit des Staates gegenueber den eigenen Buergern erleichterten sowohl die historischen Traditionen als auch die in den Jahren der kommunistischen Herrschaft bewusst kultivierte Unwissenheit der Bevоelkerung in Rechtsfragen. Zur stаendigen Praxis gehоerte die Verabschiedung geheimer, Дnicht fuer die Verоeffentlichung in der PresseУ vorgesehener Gesetze. Im Ergebnis dessen Дbildete sich in der sowjetischen Gesellschaft eine spezifische Auffassung des Begriffs ВRechtС heraus. Im Massenbewusstsein wurde Recht nicht mit der Verfassung oder mit dem Gesetz und erst recht nicht mit natuerlichen Rechten des Menschen, sondern mit der konkreten Tаetigkeit dieser oder jener ueber die Einhaltung des Rechts wachender Institutionen gleichgesetztУ.[1]

Im ДDritten ReichУ erfolgte die Verankerung der Anerkennung des Terrors als legitimer Funktion der Macht im gesellschaftlichen Bewusstsein auf andere Weise. Das Naziregime nutzte die Rechtshоerigkeit der Deutschen aus, in diesem Falle war es nicht die Angst vor dem Staat, sondern die Angst, den Staat zu verlieren. Die Weimarer Republik erschien vielen konservativen Publizisten als Periode des Zerfalls nicht nur gesellschaftlicher Werte, sondern auch gesellschaftlicher Strukturen. Versailles nahm den Deutschen ihren vollwertigen Staat, setzte sie schutzlos der feindlichen Welt aus. Nicht zufаellig lautete das Gesetz vom 24. Mаerz 1933, welches den Ausnahmezustand einfuehrte und den Terror der neuen Macht legitimierte, ДGesetz zur Behebung der Not von Volk und ReichУ.

In der Sowjetunion war das Abgleiten in den Totalitarismus nicht unabаenderlich. Erst Anfang der 30er Jahre gab es keine Mоeglichkeit der ДNormalisierungУ des Regimes, seiner Umwandlung in eine Дautoritаer-konservative DiktaturУ vom Typus der zaristischen Selbstherrschaft. Das Zusammenfallen von drei Faktoren: des wirtschaftlichen Rucks, der Mobilisierung des Parteiapparates und der spezifischen Auffassung vom Marxismus fuehrte zur Stalinschen ДKollektivierungУ der Landwirtschaft. In der modernen Geschichtswissenschaft sind die Formen des bаeuerlichen Widerstandes (auch in den einzelnen Regionen) gegen diese Politik untersucht worden.[1]

In den ersten drei Monaten des Jahres 1930 haben sich nach Angaben der GPU 950.000 Menschen an Aufstаenden im Gebiet beteiligt. ДUnd wenn alle sterben, wir werden das Gebiet zu hundert Prozent kollektivierenУ, so lautete die Festlegung der Fuehrung des Schepetowsker Rayons der Ukrainischen ssR. Sie widerspiegelte die Einstellung des Parteiapparates an der Basis, der von dem Wunsch beseelt war, die von oben durchgestellten Plаene zu erfuellen und ueber zu erfuellen. Die Antwort der Schepetowsker Bauern waren bewaffnete Zusammenstоesse mit der Armee und der Versuch ganzer Dоerfer, sich nach Polen abzusetzen. Allein in diesem Rayon gab es 60 Tote, ueber 500 Verletzte und bis zu 2.000 Verhaftete.[1]Ein vergleichbares Bild boten die anderen Gebiete der Дvollstаendigen KollektivierungУ. Die Frauen spielten in dieser Auseinandersetzung eine besondere Rolle. Jede dritte Erhebung wurde von den Organen der politischen Polizei als ДWeiberverschwоerungУ bezeichnet.[1]

Auf den entschiedenen Widerstand der Bauernschaft reagierte Stalin mit taktischen Zugestаendnissen (sein Artikel ДVor Erfolgen von Schwindel befallenУ vom Mаerz 1930). In strategischer Hinsicht trat er die Flucht nach vorn an, er begann mit der administrativen Modernisierung des Landes, die das Abgleiten in Richtung auf das totalitаere Regime unumkehrbar machte. Das ungewоehnliche Tempo dieser Modernisierung wаere ohne eine Aktivierung der Terrormaschinerie nicht mоeglich gewesen. Zum gegenwаertigen Zeitpunkt verfuegen wir nur ueber ausreichende Angaben ueber die gegen die Bauern gerichteten Aktionen.[1] Anfang der 30er Jahre kommt es in der OGPU zu einer Neubewertung des politischen Protestes. Die gesellschaftliche Verweigerung wird zunehmend verfаelscht. Das ist vorlаeufig nur eine Hypothese. Sie kann nur nach Auswertung eines gewaltigen Massivs von Strafsachen und Untersuchungsakten der OGPU dieser Periode bestаetigt oder verworfen werden.

Fuer die Hypothese spricht der viel zitierte Satz von Stalin vom 25. September 1936, dass die Organe der Staatssicherheit sich bei der Entlarvung von antisowjetischen Verschwоerungen um vier Jahre verspаetet haben[1] Was spielte sich im Sommer und Herbst 1932 im Lande ab, was veranlasste Stalin, sich fuer ein politisches Regime zu entscheiden, das sich auf unumschrаenkten Terror gruendete? Die forcierte Schaffung von Kolchosen fuehrte in den fruchtbarsten Gebieten des Landes zu Lebensmittelmangel, eine schreckliche Hungersnot war die Folge.

Eine Besonderheit des Widerstandes in Sowjetrussland, vor allem auf dem Lande, war, dass seine Formen nach der Unterdrueckung der Massenaufstаende vom Winter und Fruehjahr 1930 nicht von kriminellen Handlungen zu unterscheiden waren. Die Bauern haben selten lokale Parteifunktionаere ermordet, aber stаendig gestohlen und Kolchoseigentum unbrauchbar gemacht. Nachdem der Staat sie ausgeraubt hatte, griffen sie die alte Leninsche Losung ДRaubt das GeraubteУ auf. Ausserdem griff hier das spezifische russische Gefuehl von Gerechtigkeit, das nicht von inneren Motiven, z.B. der christlichen Ethik, sondern vom аeusserlichen Beispiel gelenkt war. Was andere duerfen, darf ich auch.

Die darauf folgende Geschichte der UdssR hat gezeigt, dass man nicht gegen dieses Stereotyp kаempfen kann. Dieser Diebstahl Дim kleinenУ war sowohl ein Protest gegen die eigene Armut als auch ein Protest gegen das System, das dem Menschen nicht die Mоeglichkeit bot, sich zu ДbereichernУ. Unter Breshnew hоerte man sogar auf, die Diebe als das zu bezeichnen, was sie eigentlich waren und erfand einen neuen Begriff ДnesunyУ Ц also jene, die etwas wegtragen. Parteikomitees und Satirezeitschriften kаempften vergeblich gegen die ДnesunyУ. In den dreissiger Jahren ueberraschten die Dimensionen der ДVerschleuderung von StaatseigentumУ den Staat und zeugten davon, dass der Дneue MenschУ nicht entstanden war. Dieser Versuch, einen solchen Menschen herauszubilden, war bereits in den Jahren der N÷P gescheitert. Jetzt versuchte die Staatsmacht, die Bevоelkerung durch Repressalien einzuschuechtern. Im Briefwechsel mit Kaganowitsch besteht Stalin auf Дdrakonischen Massnahmen im Kampf gegen den Diebstahl sozialistischen EigentumsУ und schlаegt als ДMindeststrafmass 10 Jahre und im Regelfall die TodesstrafeУ vor.[1]

Der Begruendung dieser Massnahmen liegen nach wie vor klassenmаessige Kriterien zugrunde (der Diebstahl wird in der Hauptsache von Kulaken oder Entkulakisierten und anderen antigesellschaftlichen Elementen, die unsere Ordnung untergraben wollen organisiert, schreibt Stalin am 20. Juli 1932), die neue Gesetzgebung und die Erweiterung der Vollmachten der nichtgerichtlichen Instanzen trifft alle Schichten der Bevоelkerung. Unter Bedingungen des sich herausgebildeten totalitаeren Regimes hоeren proletarische Herkunft oder Rassenreinheit auf, Garantie gegen Bestrafung zu sein, wenn das Verbrechen nicht als kriminelles, sondern als staatsfeindliches eingestuft wird.

Der Verzicht des Naziregimes auf radikale sozial-оekonomische Umgestaltungen entlastet es von dieser Art Widerstand. Auf das Problem der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern gehe ich an dieser Stelle nicht ein, in den dreissiger Jahren spielt sie keine wesentliche Rolle im Wirtschaftsleben des Staates.[1] In Deutschland beginnt die politische Polizei sich mit Wirtschaftsverbrechen erst in den Kriegsjahren zu beschаeftigen. Wo Ostarbeiter zum Einsatz kommen, hаeufen sich Fаelle von Sabotage. Werkzeuge und Maschinen werden unbrauchbar gemacht, die Produktion entspricht nicht den qualitativen Anfroderungen.

Die zunehmende Krise in Sowjetrussland nach Beginn der Stalinschen ДRevolution von obenУ fuehrte nicht nur zur Aktivierung massenhafter Formen von Widerstand, sondern auch zum Protest jenes Teils des Parteiapparates, der sich weigerte, blind der ДGenerallinieУ zu folgen. Anfang der dreissiger Jahre rottete Stalin die Opposition im Politbuero aus, aber sie lebte in der Person einiger ДAlter BolschewikiУ und in der Nomenklatura des ZK der KPdSU(B) weiter. Der Fall der ДGruppe um RjutinУ ist bekannt. Die ZKK hatte sich mit der Angelegenheit beschаeftigt und das Politbuero am 10. Oktober 1932 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Es vergingen kaum zwei Monate und das Politbuero sowie das Prаesidium der ZKK beschаeftigten sich in ihrer gemeinsamen Tagung mit der nаechsten Дparteifeindlichen GruppeУ.

Der Fall Tolmatschew-Ejsmont sollte einen Schlussstrich unter die Zerschlagung der ДRechtenУ ziehen und erneut die Intoleranz der Parteifuehrung gegenueber jeder Erscheinung von Andersdenken demonstrieren. Die Technologie der Anklageerhebung war bis ins Detail ausgearbeitet. ДTrinkgelageУ, Gesprаeche ueber die Unzufriedenheit, die Denunziation eines wachsamen Parteigenossen, die Pruefung der Angelegenheit in der ZKK. Das Material zum o.g. Fall wurde wаehrend der Sitzung am 27. November verteilt, die Angeklagten hatten keine Gelegenheit, es vorher zu lesen. Die Duerftigkeit des zusammengetragenen Tatsachenmaterials wurde durch das genaue Szenario der Verleumdung kompensiert, an der sich alle Gefolgsleute von Stalin beteiligten.

Von besonderem Interesse ist die Neuinterpretation des zentralen Punktes der Anklage Ц der Gesprаeche ueber die ДAbsetzungУ Stalins. Dieser Punkt war in allen Дantiparteilichen FаellenУ jener Periode obligatorisch. Er ging auf Lenins Brief an den Parteitag zurueck, in dem der Vorschlag unterbreitet wurde, Stalin als Generalsekretаer abzulоesen. Die Gruppe Tolmatschew-Ejsmont hatte dem nichts Neues hinzugefuegt. Jetzt Ц in der Auslegung durch Stalin Ц erhielt dieses Vorhaben eine terroristische Fаerbung.

ДDie Gruppierung hat eine grundlegende ƒnderung der Parteilinie zum Ziel, sie meint, dass die gegenwаertige Linie das Land in den Untergang fuehrt, dass man Stalin beseitigen muss, eben absetzen oder wie sie wollen, beseitigen. Sie wollen die Politik des ZK аendern, in dem sie eine illegale Gruppe schaffen und die Worte in Umlauf bringen, dieser oder jener ist zu beseitigen, abzusetzen, umzubringen Ц ganz wie sie wollen, irgend etwas in dieser Art.У[1] Stalins nebulоese Andeutungen wurden von seinen Gefolgsleuten bestens verstanden. Ordshonikidse sprach unmittelbar von der Gefahr des Terrors, die von den ehemaligen und gegenwаertigen Oppositionellen ausgeht: ДIm politischen Kampf fuerchten wir niemanden. Bitte schоen, breiten sie ihre Plattform aus. Aber banditenhafte Formen der politischen Abrechnung muessen wir fuerchten und ihnen zuvorkommen... Die GPU kommt jenen zuvor (d.h. sie macht sie unschаedlich Ц A. W.), die unsere Staatsgrenze ueberschreiten und jemanden niederschiessen wollen. Wir werden diese Grenze mit allen Mitteln verteidigen, aber uns vor Tolmatschew und den anderen zu schuetzen, ist wesentlich schwerer. Deshalb muss jeder Versuch, jedes Rowdietum in unserer Nаehe augenblicklich unterdrueckt werden.У[1]

Dieses Zitat bringt bereits die Ideologie der ДGrossen SаeuberungУ zum Ausdruck, die von der pathologischen Angst des Fuehrers vor Verschwоerungen und terroristischen Anschlаegen auf seine Person genаehrt wurde. Stalin wartete lediglich ab, durchdachte den Mechanismus ihrer Umsetzung. Die Ermordung von Kirow, die aller Wahrscheinlichkeit nach kein Ausdruck politischen Protestes war, erwies sich als guenstiger Anlass, diese Ideologie in die Praxis umzusetzen.

Der ДGrosse TerrorУ wurde zum Schlussakkord des Kampfes der totalitаeren Macht gegen den gesellschaftlichen Widerstand, d.h. gegen das Streben einzelner Menschen, eine der Macht unzugаengliche Nische des Privatlebens zu erhalten, das Recht auf die andere Meinung zu bewahren, auch wenn man sie nicht оeffentlich zum Ausdruck brachte, und den von oben aufgezwungenen Werten und Verhaltensmustern zu entgehen. Im Unterschied zum politischen Protest, der auf den Widerstand gegen das System gerichtet ist und deshalb offensiven Charakter hat, handelt es sich beim gesellschaftlichen Widerstand um die Reaktion des Individuums auf Luege und Gewaltanwendung. Gesellschaftlicher Widerstand bedarf keiner Organisation, keiner Fuehrer und keiner Ideologie Ц seine Ideale sind jedem immanent. Aber ohne Stuetze auf gesellschaftlichen Widerstand sind keine Ц und erst recht nicht gewaltsame Ц Versuche des Sturzes totalitаerer Regime mоeglich.

Russland hat im Unterschied zu den fuehrenden Staaten Europas, die die revolutionаere Epoche des Abschieds vom ancien Regime durchgemacht haben, nur ungenuegende Erfahrungen, was den gesellschaftlichen Widerstand betrifft, sammeln kоennen. Die Reaktion der Russen auf die Pression durch die Staatsmacht war stets eine extreme: entweder Aufruhr oder Anpassung. So gesehen kam der politische Widerstand gegen die zaristische Selbstherrschaft und gegen den Stalinismus den europаeischen Erscheinungsformen nahe Ц aber erfasste, mit Ausnahme der vor- und postrevolutionаeren Periode 1905-1921 nur eine Minderheit der Bevоelkerung.

Auffаellig ist die Kontinuitаet der Formen des Protestes in der Zeit der ДweissenУ und der ДrotenУ Diktatur. Hier ist vor allem die fuehrende Rolle der Emigration zu nennen. In der Emigration wurde der parteipolitische Kampf gefuehrt, reiften die Kader des Дzukuenftigen RusslandУ heran. Ohne Emigration kann man sich jenen Krieg auf dem Gebiet der Information nicht vorstellen, den Staatsmacht und Bevоelkerung gegeneinander fuehrten.

Die Vertreter des Дalten RegimesУ, in erster Linie die Intelligenz, unterhielten in den zwanziger Jahren direkte Kontakte zu den politischen Funktionаeren in der Emigration. 1930 verhaftete die GPU eine Reihe von Professoren und Wissenschaftlern aus Leningrad und Moskau und gab der ДGruppeУ den Namen ДBund des ganzen Volkes zur Wiedergeburt eines Freien RusslandУ.[1] Der ДGruppeУ gehоerten Wissenschaftler von Weltruf, Dmitrij Lichatschew, Sergej Bachruschin, Jurij Gotje und andere an. Sie waren weit davon entfernt, ihre ДantisowjetischenУ Auffassungen in die Massen zu tragen, standen aber im Briefwechsel mit Abgeordneten der Staatsduma und dem Grossfuerst Andrej Romanow.

In der ersten Hаelfte der dreissiger Jahre wurde der Dissens zum Regime als Form gesellschaftlichen, und nicht als Form des politischen Widerstandes relativ weich geahndet. ƒusserungen der Professoren wie z.B. Дdie Industrialisierung gruendet sich auf Knochen und BlutУ oder ДStalin ist jener Moloch, dem Millionen von Menschenleben als Opfer dargebracht werdenУ[1] brachte ihnen hоechstens drei Jahre Verbannung ein. Eine erzieherische Wirkung hatte die Verbannung nicht, nach Strafverbuessung wurden die meisten der Professoren erneut repressiert.

Fuer die Massen waren andere Formen des Protestes typisch. Sie brachten ihre Einstellung zum politischen Regime in Reimen und Anekdoten zum Ausdruck. So wurde bereits im Februar 1918 ein gewisser Konkin, ein Schumacher, wegen Verbreitung eines provokanten Gedichtes ueber den Volkskommissar Lenin vor das Revolutionstribunal gestellt.[1] Die primitiven Verse brachten das Дsozial nahestehende ElementУ fast um jene Freiheit, die ihm die gerade an die Macht gekommenen Bolschewiki versprochen hatten. In den Jahren des Buergerkrieges hatten sie gelernt, das gesellschaftliche Bewusstsein zu manipulieren und Repressalien, unabhаengig von Person und sozialer Kategorie, anzuwenden.[1]

Schon in den zwanziger Jahren entfaltete sich in Russland ein mаechtiger Partei- und Staatsapparat, der der politischen Kontrolle der Bevоelkerung diente und sich auf die Traditionen der zaristischen Geheimpolizei Ochrana stuetzte, denen er ein neues ideologisches Fundament gab.[1] In sehr vielen Untersuchungsakten zu politischen Verbrechen kommt der Satz vor: Дfuehrte antisowjetische GesprаecheУ. Er diente zur Begruendung der Verhaftung und Verurteilung der betreffenden Person. Der ausgesprochen enge Rahmen des Konformismus in den dreissiger Jahren fuehrten dazu, dass die Grenze zwischen bewusstem und unbewussten Protest Ц sogar das Fehlen eines Bildchens des Fuehrers in der Wohnung als verdeckte Opposition zum Regime ausgelegt werden konnten. Einer der Gаeste in der Familie des Schuelers der deutschen Schule in Moskau, Lоewenstein, machte seinen Gastgebern den Vorwurf ДMich wundert, dass Sie kein Portrаet des Genossen Stalin haben. So etwas gehоert sich nicht. Man kоennte von Ihnen einen schlechten Eindruck bekommen.[1]

Die Briefe an die Staatsmacht, an die Redaktionen von Zeitungen und an die Fuehrer von Partei und Staat waren gleichzeitig Ausdruck des Protestes und Ausdruck der Anteilnahme, des Mitgefuehls. Ein und derselbe kritische Brief konnte eine vernichtende Kritik der оertlichen Buerokraten durch die Moskauer Fuehrung oder die Verurteilung des Absenders nach sich ziehen. Die in der letzten Zeit erschienen Verоeffentlichungen derartiger Briefe sind ausgesprochen aufschlussreich. Die Herausgeber suchen eine Antwort auf die Frage, warum die Briefschreiber an der Basis den Kontakt mit der Fuehrung suchten, obwohl sie wussten, dass dies mit Risiko verbunden war. Der Staat fоerderte den Briefwechsel, denn er Дbedurfte solcher limitierten Formen des Kontakts mit den Buergern, denn es war die ungefаehrlichste und schmerzloseste Form der Rueckkopplung fuer das Regime, die zudem auf den historischen Traditionen des russischen Volkes aufbaute. Man darf die Rolle der ДSignale von untenУ fuer die Verwirklichung der repressiven und unterdrueckenden Funktion des Staates nicht unterschаetzen, denn in der Regel war der Impuls Ц oft eine Denunziation, erforderlichУ.[1]

Besonders riskant war die Uebermittlung und Weitergabe von Informationen in den Westen, an die Presse der Emigranten. Die in dem in Berlin erscheinenden trotzkistischen ДBulletin der OppositionУ und im ДSozialititscheski WestnikУ, dem Organ der Auslandsleitung der SDAPR, verоeffentlichten Berichte aus Russland sind bekannt. Dem Aussagewert der Information nach stammte diese aus der Fuehrungsschicht der sowjetischen Nomenklatura. In diesem Falle wаere es interessant, die Parallelen zur deutschen Ausgabe SOPADE herauszuarbeiten. Nach dem Krieg kamen die Briefe an auslаendische Rundfunksender hinzu.

Es eruebrigt sich, von der Perspektivlosigkeit des Kampfes gegen das unkontrollierte Wissen im Informationszeitalter, in dem der technische Fortschritt auf der Seite der Buerger ist, zu sprechen. Die neuen Massenmedien schlugen Bresche um Bresche in den Eisernen Vorhang. Der Staat hatte nicht mehr das Monopol auf die Information.

Die Formen des politischen Widerstandes gegen das totalitаere Regime waren in vielem davon geprаegt, dass er von linken sozialistischen Parteien getragen wurde, der SPD und der KPD in Deutschland, in der Sowjetunion waren es Sozialrevolutionаere und Menschewiki und viele desillusionierte Kommunisten. Sie alle hatten in der Vergangenheit eine positive Einstellung zur Gewalt als Hebamme der Geschichte oder selbst den individuellen Terror praktiziert. Als sie jedoch sahen, wozu seine Verabsolutierung fuehrt, wandten sie sich erschrocken ab und den demokratischen Werten zu.

Man muss beruecksichtigen, dass mit der Zeit sowohl das Selbstbewusstsein der Teilnehmer dieser oder jener Form des Widerstandes als auch die Reaktion der Staatsmacht auf den Widerstand аendert. So reagierte das bolschewistische Regime in den zwanziger Jahre gelassen auf Streiks in Staatsbetrieben, es sah in den Streiks eine unvermeidliche Folgeerscheinung der ДEngpаesseУ in der Volkswirtschaft und eine Reaktion auf die Willkuer der оertlichen Administration. Der Fuehrer der sowjetischen Gewerkschaften Michail Tomskij bemerkte auf dem Plenum des ZK 1928 voller Ironie, dass die Arbeiter in Russland mehr Streiks gewinnen, als ihre Kollegen im Ausland.[1] Die Teilnehmer am Streik in Nowotscherkassk 1962 (auf dem Hоehepunkt des Chruschtschowschen ДLiberalismusУ) wurden vom Militаer zusammengeschossen, obwohl sie gegenueber der Stadtleitung ausschliesslich оekonomische Forderungen erhoben.

 

Vergleich Ц allgemeine Tendenzen und wesentliche Unterschiede

 

Wenn wir die Geschichte beider totalitаeren Regime vergleichen, fаellt sofort die unterschiedliche Dynamik des politischen Widerstandes auf: in Deutschland nahm sie zu, als deutlich wurde, dass der Weltkrieg nicht gewonnen werden kann, in Sowjetrussland war er in der Etappe der Herausbildung des Regimes und in der Zeit des Buergerkrieges am grоessten. Dann ebbte er ab, die Wortfuehrer wurden vom bolschewistischen Staat ins Exil abgedrаengt. Wаehrend das Stalinsche Regime den ideologischen Druck in den Kriegsjahren reduzierte und es vermochte, das Volk unter der Losung ДDie Mutter-Heimat ruft!У, zu mobilisieren, verstаerkten die Nazis den Druck auf das Volk. Die Verwirklichung des Programms der Vernichtung der europаeischen Juden, die Zunahme der in die Konzentrationslager verbrachten Volksgenossen fuehrten zum gleichen Ergebnis. Alle Ressourcen der Gesellschaft waren mobilisiert und die Gesellschaft unterstuetzte bis zum letzten Moment das Naziregime und den von ihm entfesselten Krieg.

Wenn man die Dynamik des staatlichen Terrors unter Bedingungen des Stalinismus und des Nazismus vergleicht, ist es sehr schwer, Parallelen zwischen den Perioden, in denen sich beide Staaten im Krieg befanden, zu ziehen. Was die Vorkriegszeit betrifft, die sechseinhalb Jahre des ДDritten ReichesУ, so gibt es hier mehr Beruehrungspunkte zur innenpolitischen Situation im Russland der N÷P, als in der Zeit des siegreichen Stalinismus.

Ich meine die Einrichtung der Einparteiendiktatur und die Absage an Zugestаendnisse aller Art gegenueber den ДMitlаeufernУ (Menschewiki wurden aus den Sowjets und den Leitungen der Arbeiter-Genossenschaften[1] verdrаengt), die Bewegung ДSmena WechУ (ƒnderung der Wegzeichen) verurteilt, es fand 1922 der Prozess gegen die Sozialrevolutionаere[1] statt, ДPhilosophenschiffeУ verliessen Russland. In dieser Zeit wurden reale politische Gegner in Konzentrationslagern (zu den bekanntesten dieser Jahre gehоert das Solowezker Lager) isoliert und gleichzeitig wirtschaftliche Zugestаendnisse gegenueber der Mehrheit der Bevоelkerung gemacht. Jene Parteifuehrer, die nicht den Kurs der Mehrheit im Politbuero teilten waren dem ideologischen Rufmord ausgesetzt, mussten aber nicht um ihr Leben fuerchten. Sie werden problemlos analoge Prozesse im ДDritten ReichУ finden. Nur was die ДNacht der langen MesserУ betrifft, hat Hitler Stalin in den Schatten gestellt. Stalin bediente sich zur Abrechnung der Schauprozesse.

Die im Verlauf des Historikerstreits in Deutschland benannten Parallelen zwischen der Entkulakisierung in der Sowjetunion und der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten scheinen mir an den Haaren herbeigezogen. In diesem Falle sind nur die Massstаebe und z.T. die Technologie der Repressalien identisch. Es wаere ein Fehler, den Sinn der Arbeit des Historikers auf die Lоesung mathematischer Operationen zu reduzieren. Die Debatte um das ДSchwarzbuch des KommunismusУ hat dies ein weiteres mal mit aller Deutlichkeit gezeigt. Ohne etwas wissenschaftlich Neues beigesteuert zu haben, verlagerten die Autoren den Akzent von der Relativierung der nazistischen Verbrechen auf die frontale Beschuldigung des Kommunismus in unserem Jahrhundert.

Der wichtigste Unterschied liegt m.E. nach in der Motivierung der Repressalien. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist eine Kette von sozialen Revolutionen und Stalin beschloss die letzte von ihnen etwas zu beschleunigen, weil er sich als Vollender der Geschichte wаehnte. Die Rassenrevolution hatte keine Beruehrungspunkte mit der Wirklichkeit, sie war ein Hebel, dessen sich die Nazis mit Erfolg bedienten, um an die Macht zu gelangen und aus der sie ein ДIdolУ des Dritten Reiches kreierten. Hitler sprach oft von der Notwendigkeit, die Seelen der Menschen zu sozialisieren. Darunter verstand er die Nivellierung der Gesellschaft. Alles, was sich nicht der ДArisierungУ fuegte, was sich nicht der Schablone unterwarf, wurde ausgerottet. (Hierunter fielen nicht nur die Rassenmerkmale, sondern auch das soziale Verhalten, z.B. die Verfolgung der Homosexuellen.)

Die sozial-оekonomischen Produktionsformen interessierten den Fuehrer der Nazis weitaus weniger, als den ДMarxistenУ Stalin, der einen prаeventiven Buergerkrieg gegen das Dorf begann. Die Reaktion des wohlhabenden Teils der russischen Bauernschaft auf das Vorgehen der Staatsmacht, die von Fall zu Fall Formen des Antwortterrors und des Banditentums annahm, war die letzte Erscheinungsform des massenhaften Widerstandes gegen den sich stabilisierenden Stalinismus. Wie Richard Lоewenthal zu recht bemerkte, kann dieser unter Bedingungen des Totalitarismus nur eine Bewegung der Minderheit oder nur Einzelner sein.[1] Im Anschluss an die Stalinsche Revolution von oben geht der aktive Widerstand gegen die Staatsmacht gegen Null, seine relevanten politischen Ausdrucksformen sind nur im Ausland zu finden. Daher greifen die Strafvollzugsorgane zur Falsifikation und erheben die gesellschaftliche Verweigerung in den Rang von Hochverrat.

Im Unterschied zur ДEntkulakisierungУ waren die Repressalien gegen die Juden in der ideologischen Tradition des Nationalsozialismus verankert, sie wurden zu einer Art Rache der von den Juden erniedrigten und beleidigten. Das Objekt der Repressalien tritt hier als Verkоerperung des Bоesen auf, und nur darin liegt seine Schuld. In sozialer Hinsicht war diese Kampagne fast eine neutrale, zu einer ernsthaften Umverteilung des Eigentums kam es im Ergebnis der Arisierung in Deutschland bekanntlich nicht.

Auch die Mоeglichkeiten des Vergleichs des Holocaust mit dem ДGrossen TerrorУ sind begrenzt. Der eng gesetzte zeitliche Rahmen der Operationen und ihre Ausrichtung auf die Herbeifuehrung einer Endlоesung sind vergleichbar. Im Sommer 1935 hob Stalin hervor, Дdass den letzten Anhаengern der sterbenden Ausbeuterklassen nichts anderes bleibt, als vor ihrem Tode noch einmal gemein zu handelnУ.[1] Es genuegt ihnen den Garaus zu machen Ц sofort lebt es sich frоehlicher, lebt es sich besser. Wenn im ersten Falle die Motive irrational und der Mechanismus rational ist, so ist im zweiten Falle alles umgekehrt.

Man muss zwischen den Ergebnissen und den Folgen beider Prozesse unterscheiden. Das konkrete Ergebnis wurde erreicht, aber in strategischer Hinsicht war es ein Schritt des Regimes in Richtung auf den Abgrund hin. Als er die Massenvernichtung der Juden befahl, nahm Hitler bewusst die Verschlechterung seiner Chancen im Krieg in Kauf, denn der Holocaust hatte weder einen Sinn fuer die Sicherung des Hinterlandes noch fuer die Steigerung des Kampfeswillens der Deutschen. Stalin wollte die Verteidigungsfаehigkeit des Landes erhоehen, als er im Zuge der Massenrepressalien die ДFuenfte KolonneУ vernichtete, also diejenigen, die von der Macht beleidigt worden waren und in der Tiefe ihrer Seele von einer Revanche trаeumten. Das Ergebnis ist bekannt Ц demographische Verluste, eine der besten Kader beraubte Armee und eine demoralisierte Bevоelkerung.

Man wollte das Beste Ц aber das Ergebnis war so wie immer. Dieser, auch heute wieder verbreiteten Formel, liegt ein Moment zugrunde, das die Stalinsche Willkuer nicht rehabilitiert, aber es mоeglich macht, den Unterschied zum nazistischen Modell herauszuarbeiten. Die physische Vernichtung der Menschen ist in der kommunistischen Ideologie eine Дausserordentliche MassnahmeУ, das trifft auch auf das Jahr 1937 zu. Die Fuehrung macht den Repressalien ein Ende, als sich die Bevоelkerung ueber deren Ausmasse klar wird. Im Nationalsozialismus, wo der Kampf ums Ueberleben herrscht, ist der Tod des Schwаecheren, sei es ein Einzelner, ein Volk, eine Rasse oder ein Staat Ц eine normale und sogar wuenschenswerte Erscheinung. Hier gibt es keine moralischen Grenzen fuer die Vernichtung der Menschen, die einem nicht gleichrangig waren. Auschwitz wurde ernsthaft und fuer lange geplant. Zwischen den von Stalin befohlenen Deportationen der repressierten Vоelker nach Sibirien oder Mittelasien und dem Holocaust der Nazis gibt es einen prinzipiellen Unterschied. Der Diktator im Kreml war m.E. nicht bereit, diese Schwelle zu ueberschreiten.

Aber wenden wir uns weniger spekulativen Vergleichen zu. Die Verdrаengung der ДEhemaligenУ aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, der Kultur, dem Staatsapparat und der Wirtschaft in den Jahren der N÷P hat ƒhnlichkeiten mit der Praxis der Judenverfolgung bis zur ДKristallnachtУ. Im gesellschaftlichen Bewusstsein der Massen erfahren diese Repressalien buchstаeblich eine biologische Auslegung: Дihre hоefische Gattung ist vollstаendig auszurotten, damit es im Volke keinen einzigen weissen Knochen mehr gibtУ. Es ist interessant, dass sogar die Fuehrer der bolschewistischen Partei nicht abgeneigt waren, sich mit ДEhemaligenУ zusammenzutun. In den Jahren der N÷P war die Eheschliessung von ДAufsteigernУ aus dem Proletariat mit ДEhemaligenУ Adligen keine Seltenheit. In diesem Zusammenhang fallen einem die hаeufigen Skandale im ДDritten ReichУ wegen den Beziehungen der Fuehrer zu Schauspielerinnen nichtarischer Abstammung ein. 1935 wird ein vergleichbarer Skandal Ц nur diesmal mit klassenmаessigem Hintergrund Ц auf einem Plenum der KPdSU(B) zur Sprache gebracht. Es ging um die Beziehungen von Kalinin, Jenukidse und anderen Parteifuehrern zu Tаenzerinnen des Bolschoi Ц Balletts, die keineswegs aus den unteren Volksgruppen abstammten.

Nach der ДKristallnachtУ, die gewissermassen den Staffelstab vom ДGrossen TerrorУ uebernimmt, geht die Mоeglichkeit der Parallelen rapide zurueck. In Moskau werden Jeshows Anhаenger verhaftet und im ZK der KPdSU(B) der Beschluss ueber die Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch die Organe des NKWD vorbereitet. Im Unterschied zum deutschen Szenario lаesst sich Stalin nicht darauf ein, der ДVolksinitiativeУ bei der Verwirklichung der Repressalien freien Lauf zu geben. Wаehrend der zahlreichen Meetings ist stets nur von Schauprozessen die Rede, wаehrend die Massstаebe des tatsаechlichen Terrors sorgfаeltig vor der Bevоelkerung geheim gehalten werden. Die alltаegliche Praxis dieses Terrors gestattet es nicht, von irgendwelchen rationellen Kriterien hinsichtlich der Auswahl der Opfer zu sprechen, obwohl sie in den entsprechenden Beschluessen des Politbueros[1] und den Befehlen von Jeshow[1] genannt sind und formell jedem Repressierten eine Anklageschrift ausgehаendigt

In Deutschland war die Situation Ende der dreissiger Jahre eine andere. Die Justiz verurteilte wegen tatsаechlicher Beteiligung am Widerstand gegen das Regime und erweiterte den Katalog jener Handlungen, die unter die Bestimmung ДHochverratУ fielen. Die Anzahl der Todesurteile war verschwindend gering. Gleichzeitig wurden bestimmte Bevоelkerungsgruppen ohne irgendeine Mitwirkung der Justizorgane repressiert. Wenn der Stalinsche Terror jeden betraf, trug der Terror der Nazis einen ausgeprаegten Rassencharakter. Polen, Juden, Zigeuner und Slawen wurden im Unterschied zu den Дdeutschen VolksgenossenУ nicht vor ein Gericht gestellt, sondern wanderten direkt zur Vernichtung in die Konzentrationslager. Ihre Schuld erschоepfte sich in der Rassenzugehоerigkeit.

Obwohl ich kein Anhаenger der Parallelitаet von Stalins ДGrossem TerrorУ und den Rassenaktionen der Nazis bin, ein Vergleich, der in der wissenschaftlichen Literatur seit langem angestellt wird, fuehrt der Vergleich zu interessanten Ergebnissen.[1] Unter inhaltlichen Gesichtspunkten heben viele Historiker die Unterschiede hervor. Von einigen war bereits die Rede. In der UdssR wurden die Repressalien ausschliesslich vom Staatsapparat durchgefuehrt, der Apparat des NKWD wird personell aufgestockt, aber weder seine Struktur noch der Mechanismus seiner operativen Arbeit erfаehrt eine grundlegende Umgestaltung. Auch das System der Troikas, der aussergerichtlichen Organe ist keine Erfindung aus dem Jahre 1937. Im Gegenteil. Im ДDritten ReichУ wird die Durchfuehrung der Rassensаeuberungen der Parteigarde, der ss, uebertragen. In den Kriegsjahren gewinnt sie an Einfluss, weil sie, аehnlich wie der Gulag, ein System der Nutzung der Arbeit von Hаeftlingen einfuehrt. Der Vergleich der Tаetigkeit der ss und des Gulag auf diesem Gebiet steht noch aus.[1]

 

Die Erwаehnung des Terrors als Form des Widerstandes

 

Welchen Einfluss hatte der Hоehepunkt des Terrors auf den Widerstand gegen das Stalinsche und das Nazisystem? Wenn der Holocaust, der an Intensitаet in den Kriegsjahren gewann, den Akteuren des deutschen Widerstandes zusаetzliche Argumente hinsichtlich der gewaltsamen Beseitigung Hitlers lieferte, kann mit Blick auf die UdssR nach der ДGrossen SаeuberungУ nicht von Erscheinungsformen des Protestes gesprochen werden. Die legendаeren ƒusserungen einzelner Parteifunktionаere gegen den Terror[1] lassen das allgemeine Bild der ДTotenstilleУ besser hervortreten. So soll der Minister fuer Gesundheitswesen Kaminski auf dem Juni-Plenum 1937 zu Stalin gesagt haben: ДAuf diese Weise knallen wir die ganze Partei ueber den HaufenУ. Doch der Widerstand in der UdssR stellte im Unterschied zu dem Widerstand in Deutschland keine Gefahr fuer das politische Regime dar.

Aus heutiger Sicht hatte der Stalinsche Terror eine grosse erzieherische Wirkung auf die sowjetische Gesellschaft, und das nicht deshalb, weil die offene oder verborgene Abgrenzung zum Terror das gesellschaftliche Bewusstsein ueber drei Jahrzehnte lang beschаeftigte. Die menschliche Gesellschaft konfrontierte Hitler nicht nur mit dem Terror, sondern legte ihm auch eine umfangreiche Aufstellung seiner Verbrechen vor. Fuer Stalin war das Jahr 1937 eine Art Achillesferse des von ihm geschaffenen Kultes. Das machte sich sein politischer Nachfolger Chruschtschow zu Nutze. In seiner beruehmten ДGeheimredeУ gibt es Andeutungen, dass die gesunden Krаefte in der Partei gegen die Willkuer des Personenkultes Widerstand leisteten. Auf diese Weise wurde ein Widerstandskonzept begruendet, das die nachfolgenden Dissidentengenerationen und jene einfachen Menschen beseelte, die die Samisdatliteratur des Nachts in den Kuechen lasen.

Das im Osten und Westen meistgelesene Buch aus dieser Serie ist der ДArchipel GulagУ von Solshenizyn. Selbst ein Akt des Widerstandes, erzаehlte dieses Werk von seinen konkreten Erscheinungsformen in der Freiheit, wаehrend der Untersuchung und in den Lagern. Fuer viele Menschen meiner Generation wurde der Roman zu einer Art Lackmuspapier, das die Bestimmung, was gut und was schlecht ist, gestattete. Ohne den ДGrossen TerrorУ von 1937-1938 wаere der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der UdssR schmerzhafter und weitaus blutiger ausgefallen oder hаette einen Weg eingeschlagen, der der chinesischen Entwicklung nahekommt. Indem sich Stalin durch den Terror vor dem Widerstand der Massen schuetzte, legte er eine Zeitzuenderbombe unter das gesamte politische System, da er es in den Augen der nachfolgenden Generationen diskreditierte.

 

Ueber die bereits untersuchten Aspekte des Widerstandes in der UdssR Ц eine Einladung zum Vergleich

 

Der Widerstand wаehrend der Untersuchung und im Gulag

 

Neben einer Vielzahl Дweisser FleckenУ in der Geschichte des antikommunistischen Widerstandes gibt es eine Reihe von Gebieten, fuer die bereits eine Quellen- und historiographische Basis geschaffen worden ist. Das betrifft vor allem den Widerstand gegen Repressalien wаehrend der Untersuchung und im Gulag. Diesem Thema waren mehrere internationale Konferenzen gewidmet, die von Gesellschaften der Opfer politischer Repressalien in der UdssR organisiert worden waren.[1] Klammert man den Rassenterror aus, so ist die Relation von repressierten Teilnehmern am Widerstand und einfach unschuldigen Menschen in der UdssR Stalins und im Deutschland Hitlers entgegengesetzt. Wenn die Gegner des ДDritten ReichesУ ihrer Tаetigkeit in Freiheit nachgingen und ihnen in der Gestapohaft die ДStunde der WahrheitУ schlug, so fand sich die ueberwiegende Mehrheit der sowjetischen Buerger in der Lubjanka nicht wegen wirklich begangener Straftaten wider. Fuer die deutschen Antifaschisten endete mit der Verhaftung in der Regel ihre Mitwirkung an der Widerstandsbewegung. Fuer die Mehrheit der sowjetischen Menschen war die Verhaftung der Ausgangspunkt bewussten Widerstandes gegen das Regime.

Die Massstаebe der Verfаelschung der Untersuchungsakten durch die sowjetische politische Polizei sind fuer die Zeit des ДGrossen TerrorsУ bekannt, eine Praxis, die in Wirklichkeit mit der Tscheka entstand und bis zur ДEinweisungУ von Dissidenten in psychiatrische Anstalten dauerte. Die Falsifikation der Akten erschwert es den Forschern die tatsаechlichen Angaben ueber Widerstand von Repressalien vоellig unschuldiger Menschen zu unterscheiden. Bis auf den heutigen Tag sind Anekdoten in Umlauf, die davon erzаehlen, dass Leute verhaftet wurden, weil die Nachbarn in der Kommunalka auf diese Weise ihren Wohnraum vergrоessern wollten. Die Angaben kоennen nicht ueberprueft werden, wenn nur die Unetrsuchungsakten zur Verfuegung stehen.

Wenn ein Mensch in eine der zahlreichen Lubjankas geriet, wurde er sofort mit der Verlogenheit des Systems konfrontiert, eines Systems, das gegen ihn persоenlich gerichtet war. Vоellig aus der Bahn warf ihn die Tatsache, dass in der Verhоerzelle Дdie Vertreter der Staatsmacht und der Untersuchungsfuehrer erklаerten, Mitglieder ein und derselben Partei zu sein, ein und dieselbe Politik zu vertreten, ein und derselben Regierung und sogar ein und demselben Menschen Ц dem Fuehrer der Partei ergeben zu seinУ.[1]

In den Jahren des Massenterrors wurden die Verhafteten aufgefordert, ein bereits vorhandenes Verhоerprotokoll zu unterschreiben, das eine ausfuehrliche Beschreibung ihrer Дantisowjetischen TаetigkeitУ enthielt. Die einfache Verweigerung der Unterschrift, die blosse Ablehnung der Luege, die der Reprаesentant der Staatsmacht zur Wahrheit erklаerte, war bereits ein Akt des Widerstandes. Um so mehr, weil darauf psychische und physische Folter folgten, die den Methoden der mittelalterlichen Inquisition in nichts nachstanden. Die Zeugnisse jener, die die Kreise der Hоelle durchliefen, sind erschuetternde Dokumente. Wer mit den Untersuchungsakten der Opfer des ДGrossen TerrorsУ arbeitet, ist stаendig mit ihnen konfrontiert. Und jedes mal ist man aufs neue schockiert Ц es ist unmоeglich, sich daran zu gewоehnen.

Hier ist ein Auszug aus einem solchen Dokument. Es handelt sich um die Beschwerde des verhafteten Finnen Vajno Karttunen, eines Funktionаers aus der Karelischen Autonomen Republik, die er am 3. Oktober 1938 an das ZK der KPdSU(B) richtete. ДIch war mehr als 30 Tage zum Verhоer, bei dem ich stehen musste, wobei ein Verhоer 23 Tage ohne Unterbrechung dauerte, schlafen durfte ich nicht... Nachdem der Leiter der Untersuchungsstelle ДPeskiУ Kogan mir mit seinen schweren Stiefeln auf die Zehen trat, mich in die Brust boxte und mich am Bart durch die Zelle zerrte, erklаerte ich ihm, dass die Anwendung von physischer Gewalt zu nichts fuehrt und fragte ihn, was er von mir wolle, ob es nicht mоeglich wаere, sich ueber den Ausgang der Untersuchung zu einigen, ohne mir kоerperliche Schmerzen zu bereiten. Ich sagte ihm, dass ich Kommunist, Bolschewik war und bleiben werde und der Partei bis zum letzten Blutstropfen ergeben bin. Darauf antwortete er mir: ВWenn in dir noch etwas von einem Kommunisten uebrig ist, dann mache die fuer uns notwendigen Aussagen (du musst dich nicht quаelen, wir haben Kraft genug, dich zu zwingen) im Interesse unserer Partei, der Sowjetmacht und Millionen von MenschenС. Ich war mit seinem Vorschlag einverstanden und schlug der Untersuchungsfuehrung vor, ein Protokoll beliebigen Inhalts zu verfassen, das dem Schutz der KPdSU(B), der Sowjetmacht und Millionen von Menschen dient und dieses Protokoll unterschrieb ich dann.У[1]

Wo physische Gewalt ohnmаechtig blieb, wirkte moralischer Druck, die Feststellung, dass das Parteiinteresse ueber allem stand. Arthur Koestler vermochte es dank seines Talents und der Kenntnis der stalinschen Kader den Prozess der Prаeparierung der Opfer zu beschreiben, ohne selber in die ДFаenge des NKWDУ geraten zu sein. Die Arbeit mit den Untersuchungsakten der OGPU-NKWD der dreissiger Jahre zeigt, dass die Verhоerfuehrung a la Rubaschow zu den effektivsten Methoden der Falsifizierung der Untersuchung gehоerte. Die wаehrend der Verhоere gebrochenen Menschen versuchten, sobald sie wieder in der Zelle waren, erneut Widerstand zu leisten, indem sie an das ZK der Partei und die Fuehrung des NKWD Eingabe um Eingabe schrieben, in der Hoffnung, dass man frueher oder spаeter Дoben die Angelegenheit klаeren wirdУ. Wichtig ist der Hinweis auf die Zeit zwischen der Verhaftung und dem ersten Verhоer, in dem der Angeklagte ДgestandУ. Gewоehnlich wurden die Protokolle der Vernehmungen, in denen der Hаeftling nicht gestand, nicht in der Akte abgelegt.

Eine bekannte Bolschewikin, Warwara Jakowlewa, Parteimitglied seit 1904 und zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung Volkskommissar fuer Finanzen der RSFSR, weigerte sich zwei Monate lang, mit denen, die sie verhоerten, zusammenzuarbeiten. Um zusаetzlichen Druck auf sie auszuueben, wurde ihre аeltere Tochter, eine Studentin verhaftet. So blieb ihre 12 jаehrige Tochter mit der invalidisierten Grossmutter allein. Am 8. November 1937 richtete Jakowlewa eine ausfuehrliche Erklаerung an den Untersuchungsfuehrer, in der sie ihm ein ausfuehrliches Szenario eines Schauprozesses gegen ein Дtrotzkistisches ReservezentrumУ anbot. Am 7. Dezember 1937 widerrief sie in einem Brief an Jeshow ihre Aussagen. Drei Tage Дintensiver ArbeitУ waren nоetig, um sie wieder zur Zusammenarbeit Дzu bewegenУ. In kaum leserlicher Schrift schrieb sie zu ihrem Widerruf: ДIch erklаere hiermit, dass ich solche Versuche nicht wiederholen werdeУ.[1]

Die offizielle unvollstаendige Statistik des Innenministeriums der UdssR vom Dezember 1953 nennt fuer die Jahre 1921 bis 1935 fast 4,5 Millionen wegen konterrevolutionаerer Verbrechen verhaftete Sowjetbuerger, von denen ca. 800.000 erschossen worden sind.[1] Die meisten kamen in Besserungsarbeitslager, wurden zu kostenloser Arbeitskraft, die aufgerufen war, den Erfolg des sozialistischen Aufbaus zu gewаehrleisten. Die Jahre im Gulag waren fuer viele nicht nur ein Kampf ums Ueberleben, sondern auch die Fortsetzung des Widerstandes. Wаehrend des Transportes versuchten die Hаeftlinge aus den Eisenbahnwagen heraus Manifestationen zu organisieren, in den Lagern schufen sie alternative Leitungen, schrieben kollektive Briefe des Protestes nach Moskau. In den Baracken fand man Flugblаetter und Дkonterrevolutionаere InschriftenУ, zu Feiertagen traten die Hаeftlinge mit Losungen wie ДUnser Blut, das Blut der Bolschewiki, verwandelt Stalin in GoldУ hervor.[1]

Bis 1937 waren Hungerstreiks eine wirksame Form des Protestes gegen die unmenschlichen Haftbedingungen in den Gefаengnissen. Im Zuge der Vorbereitung auf den Massenterror wurden Listen der ДInitiatoren verschiedener Arten von absichtlicher Verzоegerung der Arbeit und ObstruktionУ erstellt und die Hаeftlinge ein zweites mal verurteilt Ц diesmal nach der ersten Kategorie. Nach dem Krieg nimmt der Widerstand aktivere Formen an, eine Welle von Aufstаenden durchzieht den Gulag und in einigen Lagern kаempfen die Hаeftlinge gegen die Armee. Der Aufstand in Kengir 1954 dauerte ueber einen Monat, im Lager wurden Selbstverwaltungsorgane geschaffen, Gottesdienste eingefuehrt und die Freizeit organisiert. In der Regel wurde dieser Widerstand in Blut ertrаenkt. Fast alle am bewaffneten Widerstand im Workutlag im Winter 1942 beteiligten Hаeftlinge wurden umgebracht. Bei der Unterdrueckung des Aufstandes in Norilsk im Sommer 1952 kamen mehr als 1.000 Hаeftlinge ums Leben.

Mit eigenen politischen Losungen (mit Ausnahme der Forderung nach Amnestie) traten die Teilnehmer am bewaffneten Widerstand im Gulag der Nachkriegsjahre, hier war der Prozentsatz krimineller Hаeftlinge sehr hoch, nicht hervor. Sowohl die Dokumente des NKWD als auch die Erinnerungen von Hаeftlingen, die an den Aufstаenden beteiligt waren, beduerfen kritischer Pruefung durch die Historiker. Bis auf den heutigen Tag gibt es keine Angaben ueber das Verhаeltnis politischer und krimineller Hаeftlinge unter der Gulagbevоelkerung. Hinzu kommt, dass 1937-1938 viele Kleinkriminelle nach Artikel 58 verurteilt wurden.

Der Vergleich von KZ und Gulag erfolgt bisher auf der Ebene als Stigma der Moderne. Eine konkretere und ausgewogenere Analyse der Lebensweise der Hаeftlinge, der Organisation der Bewachung und der Zwangsarbeit sowie der Relation von Wachmannschaften und Hаeftlingskontingenten steht noch aus. In Russland sind erste interessante Studien ueber die Kader des Gulag erschienen[1], die durch Studien ueber einzelne Besserungsarbeitslager zu ergаenzen sind.

Die Tаeterforschung im Hinblick auf das Stalinsche System bildet sich heraus. Sie bewegt sich dabei von oben nach unten, Mitarbeiter von ДMemorialУ bereiten eine Enzyklopаedie der Funktionstrаeger des NKWD aus dem zentralen Apparat vor, aber Дwie der Apparat auf mittlerer und unterer institutioneller Ebene landesweit wirklich funktionierte, darueber wissen wir noch relativ wenigУ.[1] Diese Ebene war die wirklich entscheidende Ebene in der Periode des ДGrossen TerrorsУ. Es geht um die Rayon-Verwaltungen des NKWD, die Basisstruktur des Volkskommissariats, die ein umfangreiches Tаetigkeitsfeld hatte, das von der Feuerwache bis zur politischen Strafverfolgung reichte. Allein im Moskauer Gebiet gab es 1937 ca. 60 Rayon-Verwaltungen des NKWD. Sie verfuegten weder ueber genuegend Kader fuer die operative Arbeit noch ueber eine materielle Basis (Untersuchungsgefаengnisse, Transportmittel), aber ihre Leiter mussten regelmаessig Agenturmeldungen nach oben weitergeben, mussten Listen potentieller ДVolksfeindeУ erstellen, Verhaftungen in ihrem Bezirk und die Untersuchung jener Fаelle durchfuehren, an denen die Vorgesetzten kein Interesse hatten.

Noch besteht die Chance, dass Historiker Zugang zu den Akten der Zentralen Organe des NKWD erhalten, die Dokumente der Rayon-Verwaltungen wurden nach 20 Jahren vernichtet.[1] Im Unterschied zur amtlichen Korrespondenz wurden die archivierten Untersuchungsakten zu den Staatsverbrechen Дfuer ewig aufbewahrtУ. Sie sind bis auf den heutigen Tag die einzige Quelle fuer die Untersuchung des Terrors im Rayon-Massstab.

Ihre Aufbereitung erfolgt im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Buches der Erinnerung an die 20.000 in den 14 Monaten des Massenterrors in Butowo Erschossenen. Die Analyse der Akten ergab, dass die Untersuchung in der Mehrzahl der Fаelle von den Rayon-Verwaltungen des NKWD gefuehrt wurde. Als Beispiel sei hier nur erwаehnt, dass von den zehn operativen Mitarbeitern der NKWD Verwaltung Kunzewo, darunter waren Studenten, die ihr Studium abgebrochen hatten und ehemalige Feuerwehrmаenner, von August 1937 bis Mai 1938 ca 1.000 Einwohner des einen Steinwurf von der Hauptstadt entfernten Rayons in den Tod geschickt haben. Das war sogar nach Massstаeben des ДGrossen TerrorsУ zu viel. Nach der Ablоesung Jeshows durch Berija beschаeftigte sich eine Sonderkommission des NKWD mit dem Rayon Kunzewo. In den Aussagen der Henker aus der Rayon-Verwaltung des NKWD findet sich auch nicht die Spur der Reue, obwohl einige von ihnen zum Tode durch Erschiessen verurteilt worden waren. Aus Tаetern zu Opfern geworden, аenderten sie die Stereotype ihrer Haltung nicht, jetzt gestanden sie, Spione und Terroristen gewesen zu sein. Jene die ueberlebten, dachten nicht im Entferntesten daran, sich zu verbergen, einer der ehemaligen operativen Mitarbeiter war in den fuenfziger Jahren Abgeordneter des Rayonsowjets. Die Analyse der Mechanismen des Staatsterrors vor Ort und der Mentalitаet seiner Ausfuehrenden lebt vom Enthusiasmus einzelner Forscher, die stаendig bemueht sind, den verborgenen Widerstand der Nachfolgeeinrichtungen des NKWD zu ueberwinden.

 

ДRisiko-GruppenУ unter den Opfern politischer Repressalien

 

Ein weiterer Aspekt, den russische Forscher bearbeiten, ist die soziale, nationale und weltanschauliche Kennzeichnung der Opfer politischer Repressalien, von denen ein Teil zu den Akteuren des antikommunistischen Widerstandes gehоert. Auch hier bieten sich interessante Vergleiche an. Nach der Machtuebernahme Hitlers gehen die Konservativen in die innere Emigration, die Vertreter der Arbeiterparteien ins Exil. In der UdssR ist das Gegenteil der Fall. Die linke Opposition blieb im Land, die ДEhemaligenУ fuehrten ihren Kampf aus der Emigration. In den ersten Jahren garantierte die Sowjetmacht ihren einstigen Kampfgefаehrten aus dem sozialistischen Lager sogar besondere Haftbedingungen Ц die sogenannte politische Isolation. So forderten z.B. die im Susdaler Gefаengnis inhaftierten Sozialrevolutionаere dass man sie getrennt nach Parteifraktionen zum Hofgang fuehrt.[1] In der Ausreise sahen viele politische Gefangene, die die Verbannung in der Zarenzeit hinter sich hatten, einen Akt der Feigheit. Trotzki wurde 1929 mit Gewalt ausgebuergert. Spаeter bot auch die Emigration keine Garantie vor Uebergriffen des NKWD.[1]

Nachdem sie die den Дbuergerlichen StaatsapparatУ zerschlagen hatten, nahmen sie ihren Gegnern jene Institutionen, die wie spаeter in Deutschland, als Herde des Widerstandes dienen konnten. Es geht um die Armee, das Aussenministerium usw. Trotzdem versuchten die Дbuergerlichen SpezialistenУ oder, wie sie auch genannt wurden, die ДMitlаeuferУ, bis Anfang der dreissiger Jahre immer wieder, Einfluss auf den Kurs der Partei zu nehmen. Die kurze Geschichte der Zeitschrift ДEkonomistУ, die 1922 in Petrograd erschien, ist in diesem Zusammenhang symptomatisch. In der Redaktion arbeiteten Wissenschaftler wie P. A. Sorokin, N. D. Kondratjew und E. W. Tarle mit. Sie stellten nicht den Marxismus als Ganzes in Frage, sondern beharrten auf der Nichtrationalitаet der totalen Vergesellschaftung, die eine Umwandlung der Bestechnung in eine staatliche Institution nach sich zog und schlugen statt dessen ihren Дgenossenschaftlichen Weg zum SozialismusУ vor.[1] Eine grosse Gruppe der ДMitlаeuferУ arbeitete in der Staatlichen Plankommission und wehrte sich lange Zeit erfolgreich gegen die Einfuehrung der Direktivplanung.

Subjektiv zаehlten sich diese Menschen nicht zu den Akteuren des Widerstandes, ihre Zusammenarbeit mit der neuen Macht resultierte aus der Theorie und der Tradition der Semstwo-Bewegung Anfang des Jahrhunderts. Aber sie stellten eine ernstzunehmende Gefahr der Existenz einer anderen Meinung dar, die in der Lage ist, die Stuetzen des ideokratischen Systems zum Wanken zu bringen. Sie alle wurden repressiert, ausgebuergert oder 1930 der Beteiligung an fiktiven antisowjetischen Organisationen, wie z.B. der ДWerktаetigen BauernparteiУ, angeklagt. Die Arbeiter unterstuetzten die gegen die Spezialisten gerichtete Politik (speceedstvo), weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer sozialen Lage und den Aufstieg auf der Karriereleiter erhofften.

Bereits 1928 hоerten die Bolschewiki damit auf, gezielte Schlаege gegen die Дbuergerlichen SpezialistenУ zu fuehren und gingen dazu ueber, diesen Personenkreis als Ganzes einzuschuechtern. Die Rede ist vom Schachty-Prozess, in dessen Verlauf eine Schаedlingsorganisation von Ingenieuren in den Kohlengruben des Donbass entlarvt wurde. Die Initiative der vor Ort tаetigen Tschekisten wurde von der Moskauer Fuehrung benutzt, um eine landesweite Kampagne zu fuehren.[1] Besondere Aktivitаet legten Stalin und Molotow an den Tag, die Suendenbоecke fuer die eigenen Fehler in der Wirtschaftspolitik brauchten.[1] Der Schachty-Prozess leitete ein neues Kapitel des Staatsterrorismus ein, eines Terrors, der das ingenieur-technische Personal in der sowjetischen Industrie einschuechtern und eine Verbindung zwischen ДSchаedlingstumУ und оekonomischer Intervention des Westens gegen die UdssR herstellen sollte.[1]

Ein weiterer Unterschied: In der UdssR war der politische Widerstand breiter als in Deutschland, denn er schloss Ц vor allem im Baltikum und im Nordkaukasus Ц Elemente des nationalen Befreiungskampfes ein. Auch das Spektrum der gesellschaftlichen Verweigerung war breiter. Ein bedeutender Teil der gesellschaftlichen Institutionen wurde im Verlauf der zwanziger und dreissiger Jahre zu ДantisowjetischenУ erklаert, was automatisch dazu fuehrte, dass die Aktivisten als Regimegegener angesehen wurden. Oft handelte es sich um vоellig unschuldige Organisationen wie die Verbrauchergenossenschaften (ihnen wurden nicht aus Lohnarbeit stammende Einkuenfte zur Last gelegt), Hobbyfunker (ihnen wurde Verbindung zum Ausland vorgeworfen), Zirkel zum Erlernen von Esperanto. Da sich auch Trotzki fuer die Schaffung einer proletarischen Sprache eingesetzt hatte, wurde 1937 den russischen Mitgliedern der Internationalen Esperanto-Gesellschaft ein ganzer Strauss von Anklagen entgegengehalten: trotzkistische Tаetigkeit, antisowjetische Propaganda, Spionage und Vorbereitung von Terroranschlаegen.[1]

Alles, was irgendeine Beziehung zum Ausland hatte, wurde vom totalitаeren Staat als feindlich angesehen, als etwas, was sein Monopol auf Information, sein Recht auf Wahrheit, unterlief. Wenn der Nationalsozialismus vom Kult der eigenen Nation lebte, dann zeichnete den Stalinismus ein Antikult aus: der Hass auf alles Auslаendische, dessen Hоehepunkt in die Nachkriegsjahre fiel. Es ging soweit, dass das Gesetz Eheschliessungen von Sowjetbuergern mit Auslаendern verbot. Letztere gehоerten nicht zuletzt deshalb zu der Risiko-Gruppe, weil ihre Lebensweise viel von dem enthielt, was in der UdssR als Nonkonformismus oder antisowjetisch galt. Das betraf auch die Kommunisten. Deutsche Emigranten wie die aus der ДGruppe um WollenbergУ, hоerten auslаendische Sender, erhielten Post aus dem Ausland und bewahrten die Werke von Trotzki auf. In den Erinnerungen von Wehner gibt es eine Stelle, in der er beschreibt, wie er in seinem Zimmer im Hotel Lux jene Buecher aussortiert, die als antisowjetisch gelten kоennen und sich dann aufmacht, um sie in der Moskwa zu versenken.

Aber ein Beweismittel konnte man nicht loswerden. Es war die Rubrik ДNationalitаetУ im Fragebogen. 1937 tauchte im NKWD-Jargon ein neuer Terminus, ДFeindliche NationalitаetenУ, auf. Gemeint waren die an die Sowjetunion grenzenden Nationen, deren Vertreter Polen, Balten, Finnen, Deutsche und viele andere, der Дfuenften KolonneУ zugerechnet wurden. Die Praxis der Organe des NKWD in den Дnationalen OperationenУ von 1937 bis 1938 und 1941 und 1944 bringt sie dem Rassenterror der Nazis nahe.[1] In einigen Fаellen bedienten sich die Untersuchungsfuehrer vor Ort des Telefonbuches, um die von oben durchgestellten Quoten der Verhaftungen zu erfuellen. So wurden im Prozess der weiteren Fаelschung aus Weissrussen Polen, aus Juden Deutsche.[1] Von 1937 bis 1938 wurden im Zuge der polnischen Operation 120.000 in der UdssR lebende Polen verhaftet, drei Viertel der Verhafteten wurden von den Sondertroikas zum Tode verurteilt.[1]

 

Die studentische Jugend spielte eine aktive Rolle im Widerstand gegen den Totalitarismus, die ДWeisse RoseУ in Deutschland ist ein Beispiel. Die Organe des NKWD stellten in den Jahren des ДGrossen TerrorsУ die Maschinerie des ДDritten ReichesУ weit in den Schatten, was die Erfindung und Entlarvung von Verschwоerungen von Jugendlichen betrifft. Mit diesem ДKontingentУ beschаeftigten sich besondere Abteilungen der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKWD, die ein weitverzweigtes Netz von Informanten unter Dozenten und Studenten an Hochschulen und in einfachen Schulen hatten.

Ein Beispiel aus dem Leben der deutschen Schule in Moskau mоege zur Illustration genuegen. Einmal, es war 1929, brachte der Lehrer Friedrich das Buch von Leonid Pantelejew ДSchkid. Die Republik der StrolcheУ mit in die Schule. Das Buch war gerade in Berlin, in deutscher Uebersetzung erschienen. Die fesselnde Beschreibung des Alltags der Besprisorniki hinterliess einen starken Eindruck auf die an der deutschen Schule lernenden Kinder und sie beschlossen, eine Gruppe zu gruenden, in der Mann fuer Mann steht. Die Mitglieder der Gruppe dachten sich den Namen ДTote GardeУ aus, ein Abzeichen wurde nach dem Muster der Brennspiritusflasche angefertigt: Ein Schаedel mit zwei gekreuzten Knochen. Die Kinder legten Geld zusammen und kauften ein Kleinkalibergewehr. Wаehrend der Wanderungen in die Umgebung veranstalteten sie Schiessuebungen. Sie gaben auch einige Ausgaben der Zeitung ДSOSУ heraus, die sie in der Schule aushаengten.

Die der Arbeit der Pioniere zuwiderlaufenden Aktivitаeten der Schueler wurden bald bemerkt, sie mussten in Versammlungen Reueerklаerungen abgeben und die Akte ДTote GardeУ verschwand im Archiv. Aber nicht fuer lange. 1937 wurde Wladimir Wunderlich, einer der Herausgeber der Schuelerzeitung, im Zuge der Umsetzung des Befehls ueber die Entlassung aller Deutschen aus kriegswichtigen Betrieben, verhaftet. Die Information ueber das Kinderspiel geriet in das Protokoll seiner Vernehmungen und dank der Bemuehungen der Untersuchungsfuehrer wurde daraus eine Дillegale faschistische JugendorganisationУ.[1]

Auf dem Gewissen der fuer die Jugend zustаendigen Abteilung der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKWD fuer das Moskauer Gebiet lasten die falsifizierten Fаelle der ДHitlerjugendУ und des ДBundes Polnischer PatriotenУ, in deren Verlauf ueber 100 deutsche und polnische Jugendliche verhaftet und erschossen wurden.[1] Die Opfer wurden nach dem erprobten Prinzip ausgewаehlt. Tatsachen nonkonformistischen Verhaltens wurden so zurechtgebogen, dass eine Дterroristische SpionageorganisationУ entstand. In einer zweiten Etappe wurden deren ДMitgliederУ gezwungen, erfundene Anschuldigungen zuzugeben.

Der Hоehepunkt der Repressalien der Studentenschaft in der UdssR fаellt in die Nachkriegsjahre. Die Namen der von den Organen entlarvten Дantisowjetischen JugendorganisationenУ sprechen fuer sich: ДKommunistische Partei der JugendУ, ДKommuneУ, ДFuer SozialismusУ usw.[1] Am verbreitetsten war die passive Abkehr von der Politik, dagegen konnte der repressive Mechanismus nicht an.[1] Die jungen Leute erfassten sehr schnell die Verlogenheit der offiziellen Propaganda und suchten nach einer Nische, in der sie unerreichbar waren. ДHier in die freie Natur, aber ohne zu marschieren, dort auf den Tanzboden oder auch ins Konzert. Was sie gemeinsam hatten, war eben die Verweigerung dessen, zu dem sie hatten erzogen werden sollen.У[1]

L. N. Krasnopewzew, ein Fuehrer einer Дantisowjetischen GruppeУ (ihre Mitglieder waren Studenten und Hochschullehrer der historischen Fakultаet der MGU, sie wurden 1958 verhaftet), beschreibt fast mit den gleichen Worten die Situation der Jugendlichen in der UdssR. ДDie Repressalien des Staates, die stаendigen Pogrome in Wissenschaft, Kunst und sogar in den Parteiorganisationen der Hauptstadt, die mit herausforderndem Zynismus und durchweg Falsifiziert durchgefuehrt wurden, sinnlose aussenpolitische Abenteuer a la Korea, alles das liess der Jugend Ende der vierziger, Anfang der fuenfziger Jahre keine Wahl... Die Befreiung der Jugend vom Bolschewismus war eine mаechtige und vielschichtige Bewegung und nahm die unterschiedlichsten Formen an. Alle Seiten des Stalinschen Nachkriegsverhaltens wurden abgelehnt. Ausdruck der Ablehnung waren die weiten Hosen, Jacketts mit Schulterpolstern, der Buerstenhaarschnitt und die Kunst des Sozart. Der Hang zur westlichen Kultur, Lebensweise und zwischenmenschlichen Beziehungen nahm zu.У[1]

Der gesellschaftliche Widerstand der Nachkriegsjahre wird fаelschlicherweise auf den Sieg der UdssR im Krieg zurueckgefuehrt. Gewiss gab es das Element der Дinneren BefreiungУ und der Bekanntschaft mit Europa. Aber das war nicht das Entscheidende.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurьck, zu den politischen Schluяfolgerungen, die sich aus der vergleichenden Analyse des Widerstandes im Stalinschen Ruяland und in Nazideutschland ergeben. Das Fehlen eines Konsens in der Einschдtzung unserer Vergangenheit ist eine Folge des Дweichen AusstiegsУ aus dem Totalitarismus, der sich ьber Jahrzehnte hinzog. Wir hatten weder eine Kapitulation wie 1945, wir wurden nicht geschluckt wie die DDR 1990. In den Jahren der Perestroika hцrte der Widerstand gegen das Regime auf, eine Strafen nach sich ziehende Tat zu sein, und Millionen von Menschen gingen auf die Straяe, um zum Ausdruck zu bringen, was sie nicht mehr wollen. Das positive Programm war sehr schwach vertreten, alle wollten leben wie im Westen, frei und reich, d.h. sie waren auch bereit, sich mit Demokratie und Markt abzufinden. Kann man heute sagen, daя Ruяland das eine wie das andere erhalten hat? Vorerst noch ja. Warum bringen dann ein und dieselben Grundlagen in Ruяland und Deutschland so unterschiedliche Folgen hervor?

Der politische Widerstand muя immer ьber ein positives Programm verfьgen, das in der Regel das Land auf den historischen Moment zurьckfьhrt, an dem die Дfalsche BewegungУ, das Abgleiten in den Totalitarismus, begann. Innerhalb des deutschen Widerstandes wurde diskutiert, ob ein solcher Moment das Reich oder die Weimarer Verfassung ist. In Ruяland hat man es vermocht, zu vergessen, wohin zurьckgekehrt werden soll, wie unsere eigene ДrichtigeУ Geschichte aussieht. Hцrt sie schon 1905 auf? Reicht sie bis 1917? Oder bis 1929? Das Fehlen exakter Kriterien in dieser Frage bleibt jene Pflicht, die die Historiker gegenьber ihrem Volk noch schuldig sind.

Sie, d.h. uns haben die Gesetze des Marktes in ihren Bann gezogen, die heute zu ignorieren genauso gefдhrlich ist, wie zu Sowjetzeiten die ДGesetze des Marxismus-LeninismusУ. Die Flut der Verцffentlichung von Biographien, die im seltensten Fall zu wissenschaftlichen zu zдhlen sind, hдlt an. Die aus der Sicht des Durchschnittslesers ausdrucksstarken Episoden werden herausgegriffen und die Geschichte auf diese zugeschnitten. Versuchen Sie ein Buch ьber die sowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu finden, auf dessen Umschlag nicht ein Portrдt von Stalin zu finden ist. Selbstverstдndlich ist das nicht immer der Ausdruck der Einstellung des Autors zum Дgroяen FьhrerУ, sondern in der Regel verlegerisches Konzept. Im ehemaligen Parteiarchiv spricht man von Stalin als von Дunserem ErnдhrerУ.

Es fдllt mir schwer, zu erklдren, warum das wissenschaftliche Interesse so auf das Problem des ДGroяen TerrorsУ von 1937 bis 1938 fixiert ist, wдhrend in der ьberwiegenden Zahl doch einfache unschuldige Menschen repressiert wurden. In der Regel werden jene Perioden ausgeblendet, in denen die politische Polizei gegen tatsдchliche Gegner des Parteiregimes kдmpfte. In diesem Zusammenhang gibt es weit mehr Material zum Thema ДWiderstandУ, weit mehr Beispiele, die zur demokratischen Erziehung der Russen beitragen kцnnten.

Doch auch hier gibt es mehr Fragen, als Antworten. Wie soll man sich zu den Erben jener verhalten, die in den Jahren des Bьrgerkrieges gegen die ДRotenУ gekдmpft haben? Muя man sie zu Kдmpfern fьr die gerechte Sache erklдren oder sie zuerst selektieren? Die Reinen von den Unreinen trenne, die Monarchisten von den Demokraten, die Anhдnger des Staates von den Nationalisten usw. usf.? Und auch der rein chronologische Aspekt spielt eine Rolle. Ja, das Stalinsche Regime war ein Regime von Verbrechern. Deshalb muя jede Erscheinung von politischem Widerstand von Ende der zwanziger Jahre bis zum Tode des Diktators als positiv eingeschдtzt werden. Es reicht hin, die aktuellen Wertungen der von Trotzki gefьhrten Дlinken OppositionУ, die die Partei und das Land angeblich zurьck zum Kriegskommunismus zog, mit der Einschдtzung der ДRechtsabweichungУ um Bucharin zu vergleichen, die mit einer mцglichen Alternative zum Stalinismus verglichen wird.[1]

Ohne Antwort auf die Fragen der Vergangenheit kann man die Probleme der Gegenwart unmцglich lцsen, hierzu gehцrt z.B. die Rehabilitierung der sowjetischen Kundschafter, die in den letzten Jahrzehnten zum Gegner ьbergelaufen sind. Wer sind sie, Vaterlandsverrдter oder Kдmpfer gegen das System? Jeder der №berlдufer hat erklдrt, Дdie Freiheit gewдhltУ zu haben. Ist das Ц mit Blick auf die russische Gesetzgebung Ц eine hinreichende Begrьndung fьr Straffreiheit oder sind hier Parallelen zur ДAbstimmung mit den FьяenУ, wie es in der DDR der Fall war, unzulдssig?

Richtig ist, das die russische Gesetzgebung einen Geistlichen, der wegen seiner Predigten gelitten hat, und einen Untersuchungsfьhrer des Jeshowschen NKWD, der verhaftet wurde, nachdem Stalin den ДGroяen TerrorУ gestoppt hat, gleichermaяen zu den Opfern politischer Repressalien zдhlt. Nivelliert denn die falsifizierte Anklage, die beiden ausgehдndigt wurde, ihre Haltung gegenьber dem politischen Regime, hebt sie den Unterschied zwischen Widerstand und aktiver Beteiligung auf? In den neunziger Jahren haben sich zahlreiche Angehцrige von umgebrachten Mitarbeitern des NKWD mit der Forderung an die Staatsanwaltschaft gewandt, ihre Vorfahren zu rehabilitieren. Wenn auch im Falle von Jeshow oder Berija der Antrag mit fadenscheinigen juristischen Begrьndungen abgelehnt wurde, so trifft das nicht auf ihre Handlanger zu, die automatisch von der Anschuldigung, Trotzkisten oder Spione gewesen zu sein, freigesprochen und in die Liste der Opfer des Stalinismus aufgenommen werden. Im Verglichen mit ihnen sind die Gestapoleute bescheidene Lehrlinge!

Unter den Strafakten, die ich im Archiv einsehen konnte, war die Akte von Berg, dem Wirtschaftsleiter der Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD, der 1937 verhaftet und erschossen wurde. Er war verantwortlich fьr die Organisation der Massenerschieяungen in Butowo, wo innerhalb von 14 Monaten ьber 20 Tausend Menschen verscharrt worden sind. In der Akte sind Aussagen von Zeugen abgelegt, die an diesen Aktionen direkt beteiligt waren. So erinnerten sie sich u.a. daran, daя die Lastwagen, mit denen die Verurteilten aus der Lubjanka nach Butowo gebracht wurden, mit einer speziellen Pedale ausgerьstet waren. Im Falle von ДUnruhe im WagenУ konnten die Auspuffgase ins Innere des Kastenwagens umgeleitet werden. Diese Vergasungswagen wurden ДSeelentцterУ genannt. In den Jahren des ДTauwettersУ wurde der Antrag auf Rehabilitierung abgelehnt. In den neunziger Jahren wurde ihm stattgegeben.

Die Personalakten der Diener des Staatsterrors befinden sich nach wie vor im Zentralen Archiv des FSB. Die Statistik der Repressalien, die Befehle und operativen Dokumente des NKWD/KGB sind nur Auserwдhlten zugдnglich. Wenn die Angehцrigen Akteneinsicht erhalten, behalten sich die Mitarbeiter des Archivs das Recht vor, Dienstkorrespondenz und andere Papiere aus der Akte zu entfernen. Ein Historiker, der ьber diesen oder jenen Menschen schreiben will, erhдlt nur eine knappe Auskunft, aus der die Umstдnde, die zur Verhaftung fьhrten, ebensowenig hervorgehen, wie der Verlauf der Untersuchung und der Verurteilung. Im ewigen Streit zwischen Forschern und Archivaren gehen letztere als Sieger hervor.

Die russische Gesellschaft der 90er Jahre hat das Interesse an der eigenen Vergangenheit schnell verloren. Die Wirklichkeit scheint viel schlimmer zu sein. Die Historiker der Sowjetperiode sind in den elektronischen und Printmedien fast nicht mehr vertreten. Dafьr haben Spionagestorys, wie das jьngste Buch ьber den Kampf um den Himalaya[1], Hochkonjunktur. Die Kultur des wissenschaftlichen Streits ist verschьttet, Forschungsthemen hдngen von denen ab, die sie bezahlen kцnnen. Bisher gibt es keine einzige verallgemeinernde Arbeit ьber den antikommunistischen Widerstand in der UdSSR. Die Menschenrechtsorganisation ДMemorialУ ist mit Blick auf ihre Kapazitдt ьberfordert.

Jede neue Drehung der Wahlkampfspirale unter den Bedingungen der neuen russischen Demokratie teilt die Gesellschaft immer wieder in ДWeiяeУ und ДRoteУ, ordnet die Vergangenheit der partei-politischen Konjunktur unter.[1] Nicht nur das Bild, vom ДRuяland, das wir verloren habenУ wird beschworen, sondern auch drastischere Vergleiche, die zur deutschen Entwicklung einen Bezug haben, bemьht. So unterstreicht z.B. der Regisseur Stanislaw Goworuchin, daя sich im Land ein verbrecherisch-krimineller Staat herausgebildet hat, und fragt in diesem Zusammenhang: Und der Stalinsche Staat, war er denn nicht auch ein solcher? Nein. Ein verbrecherischer Staat und ein kriminell-mafiцser Staat sind nicht ein und dasselbe. Hitlers Macht war eine verbrecherische, aber keine kriminell-mafiцse.[1] Die massenhaften Verbrechen der Diktatoren werden hier dem kriminellen Sumpf entgegengesetzt, in dem Ruяland zu versinken droht. Es ist nicht besonders schwer, sich vorzustellen, fьr welche Seite die Russen Sympathien ergreifen werden. Unter Bedingungen der Demokratie liegt die Macht, die als unvermeidliches №bel angesehen wird, viel nдher. Frьher war das ferne Moskau die Quelle von Macht und Gewalt, heute ist es der ДPateУ vor Ort.

Mir sagt der von Joachim Gauck vorgeschlagene Terminus Дverhandelte RevolutionУ[1] zu. Mit einer wesentlichen Korrektur. Es geht nicht um den freiwilligen Verzicht der herrschenden Elite auf die Macht, sondern darum, daя sie das gesamte politische System hergibt, sдmtliche Spielregeln von Grund auf дndert, um den schwanken Boden der Ideologie gegen ein stabiles Fundament des Eigentums einzutauschen. Die russische Gesellschaft hat aus dem Sturz des Totalitarismus keine Energie geschцpft, in unserer dunklen Gegenwart gibt es sehr viel Дlichte VergangenheitУ. In welchem Staat ist es mцglich, daя der Direktor der Geheimpolizei auf den Posten des Staatslenkers wechselt? Bei uns ist das der Fall. Andropow hat hier Maяstдbe gesetzt.

Es liegt auf der Hand, daя fьr Ruяland die deutschen Rezepte der ДVergangenheitsbewдltigungУ nicht passen. Die russische Staatsmacht ruft zu Versцhnung und №bereinkunft auf, eigentlich mьяte das auch Versцhnung und №bereinkunft mit der Vergangenheit einschlieяen. Doch im gegebenen Fall kommt dies als politische Bestellung daher, so дhnlich, wie der Auftrag, eine verbindliche Дnationale IdeeУ zu finden. Hinter jeder These eines Wissenschaftlers vermutet man heute dieses oder jenes Parteiinteresse.

Zur Versцhnung ist es bisher nicht gekommen. Wie kann man auch davon sprechen, wenn in der Administration des Prдsidenten der Russischen Fцderation Szenarien eines Verbots der KPRF durchgespielt werden, d.h. zu originдr bolschewistischen Methoden des politischen Kampfes gegriffen wird. Die Kommunisten ihrerseits beuten im Wahlkampf das Leitbild der von den ДDemokratenУ zugrunde gerichteten Supermacht aus.

Der Widerstand gegen das kommunistische Regime wird auf diese Weise kaum zu einem positiven Ideal im Bewuяtsein der Mehrheit der Bevцlkerung, keine ganzheitliche Erscheinung der bьrgerlichen Mьndigkeit unabhдngig von der politischen und weltanschaulichen Orientierung der Bьrger. So wird in Zukunft von verschiedenen Widerstдnden die Rede sein, man wird sie mit positiven oder negativen Wertungen versehen.

Bislang bildet das bewuяte Vergessen eine Art von Ersatz-Bewдltigung der kommunistischen Vergangenheit und trдgt damit zur Besinnung der politisch aufgeheizten russischen Bьrger bei. Ganz anders in Deutschland, wo der wunde Punkt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Urquelle der demokratischen Nachkriegskultur bildete. Gerade auf diesem Feld wдre die Nachahmung falsch und unfruchtbar. Vom Westen lernen, heiяt siegen lernen! Ц dieser Slogan gilt im modernen Ruяland. Zwar kommt keiner mehr auf die Idee, einen Schauprozeя gegen die KPdSU nach dem Vorbild des Nьrnberger Prozesses zu organisieren, aber die Neigung zur bernahme fertiger Rezepte ist noch aktuell. Vergleiche der tragischen Momente der russischen und deutschen Geschichte kцnnen letztendlich nur beweisen, daя es sich eigentlich um verschiedene Geschichten handelt, die voneinander nicht abzuleiten sind. Und so sind Anregungen, die von auяen kommen, willkommen. Der Ausweg aus der heutigen Misere muя aber in Ruяland selbst gefunden werden.

 

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