Bericht zur Konferenz Deutschland und die Deutschen in den Arbeiten einer neuen Generation russischer Forscher Gorbatschev-Stiftung 24.-25. Januar 2002Die Konferenz wurde von einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern organisiert, die zur neuesten Geschichte Deutschlands und Russlands (bzw. der UdSSR) arbeiten. Dieser erste Versuch einer Gemeinschaft junger russischer Forscherinnen und Forscher, die sich mit den Themenfeldern deutsche Geschichte und deutsch-russische Beziehungen beschaeftigen, auf diesem Gebiet diente der Bestimmung von Prioritaeten fuer die weitere Forschungsarbeit und dem Aufbau von Kontakten mit Vertretern von regionalen Wissenschaftszentren. In der Grussbotschaft M.S. Gorbatschevs an die Konferenzteilnehmer wurde betont, dass die Forscher ihre Arbeiten tagespolitischen Auseinandersetzungen weder anpassen koennen noch sollen, wie es von Politikern haeufig gefordert wird. Vor dem Hintergrund, dass die russisch-deutschen Beziehungen nach den gravierenden Veraenderungen in beiden Laendern an der Schwelle zu einer neuen Etappe stehen, muss sich die neue Generation derer, die zur deutschen Geschichte arbeiten, um groesstmoegliche Objektivitaet und um die Schliessung weisser Flecken bemuehen.
In seiner Begruessungsrede
erlaeuterte
A. Vatlin (Moskauer Staatliche Universitaet,
MGU)
An der Konferenz nahmen neben
Moskauer Forscherinnen und Forschern von
Universitaeten und anderen wissenschaftlichen
Institutionen auch Kolleginnen und Kollegen aus
Elec,
tscheljabinsk,
Jaroslavl und sogar aus Kiev teil.
Die zweite Sektion, Deutschland
und Russland an der Schwelle des 20.
Jahrhunderts, galt dem Versuch, Mikro- und
Makrogeschichte zu verbinden, indem der Eintritt
beider Laender in die Moderne analysiert wurde,
der von gegenseitiger Bereicherung, aber auch
schwerwiegenden Irrtuemern begleitet war. Alle
drei Vortraege (von
A. Nikitin,
E. Sergeev
und V. Stepanov) basierten auf Archivmaterialien
und fuehrten zu lebhaften Diskussionen.
Im dritten Panel wurde die Epoche der Diktaturen: Chancen einer vergleichenden Analyse behandelt. Hier stand das Problem der Parallelitaet im historischen Vergleich im Zentrum, die Moeglichkeiten und Grenzen der vergleichenden Analyse. Dieses noch recht neue Thema wurde im Rahmen von Alltagsgeschichte vor dem Hintergrund einer totalitaeren Gesellschaftsordnung am Beispiel der deutschen Emigration in die UdSSR (S. Zhuravlev) sowie der Ukrainischen Frage und der ukrainischen Emigranten in Deutschland (D. Burim) untersucht. Die methodologischen und historiographischen Aspekte bei der Erforschung des Familienlebens in Berlin und Moskau waehrend der 1930er Jahre (T. Timofeeva) und der Geschichte des Modekonsums in der DDR (A. Tichomirova) waren Gegenstand lebhafter Diskussionen. Unter anderem wurde eine Ausweitung der Quellenbasis derartiger Forschungen angeregt sowie Probleme der Vergleichbarkeit, der historischen Zeit und der Methode von Interviews mit Zeitzeugen, der oral history, aufgeworfen. Der erste Konferenztag schloss mit einem Beitrag zur sowjetischen Militaeradministration in Deutschland (V. Zacharov) und einem informationsgesaettigten Abriss zur politischen Landschaft Berlins nach den Wahlen vom Oktober 2001 (D. Tsygankov), infolgedessen die deutsche Hauptstadt von einer Koalition linker Parteien regiert wird. Die fuenfte Sektion, mit der der zweite Konferenztag begann, war zugleich die thematisch dichteste und erfasste die ideengeschichtlich-politische Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert. Dem Referat ueber die sozial-politischen Konzeptionen F. Naumanns und des deutschen Liberalismus insgesamt (von E. Maksakovskaja) folgte der Vortrag O. Nagornajas ueber den Traditionalismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik am Beispiel des Hindenburg-Kultes und des Tannenberg-Mythos. Dem linken Spektrum der deutschen Politik im 20. Jahrhundert widmeten sich die Beitraege ueber den Anarcho-Syndikalismus der 1920er Jahre (V. Dame) und ueber die neuen Linken in den 1960er-70er Jahren (M. Kortschagina). In einer Einzelstudie stellte D. Smirnov ideengeschichtliche Aspekte des antifaschistischen Widerstandes vor. In der Abschlussdiskussion wurde v.a. die wissenschaftliche Bedeutung der Konferenz hervorgehoben und vorgeschlagen, diese Art des Ideen- und Informationsaustausches beizubehalten und zu einer Tradition auszubauen. Besonderer Wert wurde ausserdem auf die Internetseite der Arbeitsgruppe gelegt, die als wichtige Informationsbörse dient und die Entfernungen zwischen Zentrum und Peripherie auf der einen und den russischen Regionen und deutschen Forschern auf der anderen Seite z.T. nivelliert. Weitere Vorschlaege zur kuenftigen Arbeit betrafen die Einrichtung eines Forums auf der Homepage, die Erstellung einer Bibliographie mit neuesten Arbeiten zur deutschen Geschichte und eines Kalenders mit wichtigen historischen Daten, die Organisation einer Internet-Konferenz, die elektronische Publikation von Materialien des Zentrums fuer Deutschlandforschung des Instituts fuer Weltgeschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften) u.v.m. Wichtig schien ausserdem die Belebung der Verbindungen zwischen Deutschlandforschern nicht nur innerhalb Russlands, sondern auch mit den Laendern der GUS insgesamt. Fuer die Organisation weiterer Treffen wurde betont, dass eine Konzentration auf zwei bis drei thematische Grosssektionen sinnvoll sei. Wuenschenswert sei ausserdem, Kolleginnen und Kollegen regionaler Wissenschaftszentren staerker einzubinden, in denen haeufig neue, innovative Aspekte der neuesten deutschen Geschichte erarbeitet wuerden. Als Hauptergebnis der Konferenz laesst sich festhalten, dass die rhetorische Frage der Organisatorinnen und Organisatoren Ist die russische Deutschlandforschung noch lebendig? positiv beantwortet werden kann, noch bestaerkt durch das aktive Engagement einer neuen Generation russischer Forscherinnen und Forscher. |