BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Eine besondere Problematik im Verhдltnis von Geschichtswissenschaft und Psychologie stellte sich in der Дhistorischen BiographikУ, die hierzulande im 18. Jahrhundert entstand und seit dem Historismus mindestens zeitweilig zur Geschichtswissenschaft gezдhlt wurde. Sie wurde zum Kristallisationspunkt erbitterter Auseinandersetzung um die besondere Leistung dieser Gattung, die entweder als historischer Verstehensversuche oder als ДSubjektivismusУ oder gar als Дschцne Literatur in der HistoriographieУ betrachtet wurde. Dilthey machte sich zum Verfechter dieser historischen Biographik: Die Biographie stelle - so schrieb er bereits 1883 - die Дfundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz in ihrer Wirklichkeit darУ.[39] In den zwanziger Jahren gab es einen Hцhepunkt der Debatte um die historische Biographik in Deutschland.[40]

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein eigenstдndiger Zweig vor allem in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Pдdagogik etabliert, nдmlich die Lebenslauf- und - davon abgesetzt - die Biographieforschung, der es weniger um die einzelne Biographie oder Autobiographie geht als um die Beschдftigung mit Biographien und Lebensverlдufen in sehr unterschiedlicher Weise. In den deutschen Gesellschaften fьr Soziologie und fьr Pдdagogik haben sich Sektionen gebildet, die sich auf diese Ansдtze beziehen; zahlreiche Arbeiten sind hier entstanden.[41]

Die erfahrungs- und lebensgeschichtlichen Ansдtze haben in Deutschland in den letzten Jahrzehnten viele auяeruniversitдre Anschьbe erhalten: von dem ДSchьler≠wett≠bewerb Deutsche Geschichte um den Preis des BundesprдsidentenУ[42], von Gewerkschaftsgruppen (Scharrer 1988), von der Frauenforschung[43], vom Schriftsteller Walter Kempowski, der ein eigenes Archiv unverцffentlichter Biographien aufbaute, von den Geschichtswerkstдtten, von Gedenkstдtten und Gemeinden, die zu entsprechenden Jahrestagen kommunale Forschungen oder Ausstellungen machen lieяen - zumeist zu ДWiderstand und Verfolgung im NationalsozialismusУ. Inzwischen gibt es kaum ein Thema des 20. Jahrhunderts, auch der Nachkriegszeit, das nicht unter erfahrungsgeschichtlicher Perspektive bearbeitet wurde. Diese Forschungen nutzten psychologische Felder und Zugriffe, die den Erfahrungsbegriff geschlechtsspezifisch, sozial oder generationell aufzuschlьsseln unternahmen. Dabei zeigte sich eine doppelte Gefahr: zum einen die Gefahr eines historischen Dillettantismus, unter dem vergessen wird, daя die mьndlichen oder die subjektiven Quellen - wie andere Quellen auch - einer besonderen Quellenkritik bedьrfen; zum anderen die Gefahr einer mangelnden psychologischen Professionalitдt in der Anwendung psychologischer Kategorien fьr die Geschichtswissenschaft. Vielfach wurde je nach politischem Standort moralisiert und ideologisiert.

 

Trotz solcher Risiken: Die Skizze der Entwicklung der historischen mentalitдtsgeschichtlichen Forschungen deutet an, wie weit deren Verzweigungen inzwischen gehen. Sie zeigt auch, wie notwendig, anregend und fruchtbar eine Zusammenarbeit zwischen Historiographie und Psychologie sein kцnnte, nicht allein fьr die Historiker und Historikerinnen, die sich mit Biographien, Mentalitдten oder kollektiven Erinnerungen und allgemein mit subjektiven Erinnerungszeugnissen befassen.[44] In diesen Feldern ist die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen nur besonders sinnfдllig - und dennoch herrschen auch in diesen Bereichen der Geschichtswissenschaft bei uns Historikern nach wie vor Wahrnehmungsbeschrдnkungen; wir nutzen zumeist populдr gewordene Freudianische Leerformeln und mьhen uns nur selten mit den Untersuchungen der psychologischen Wissenschaften ab[45], nicht nur der Psychoanalyse, sondern der verschiedenen psyschologischen Teildisziplinen von der Sozialisationsforschung bis zur Gedдchtnisuntersuchung, von der Entwicklungs- bis zur Sozialpsychologie. Nicht erst dann, wenn dialogische Befragungsmethoden z.B. in lebensgeschichtlichen Untersuchungen genutzt werden, sondern prinzipiell mьяten die Rekonstruktionen der Vergangenheit, die Wechsel in der Geschichtsschreibung und ihre Reprдsentanten Gegenstand historisch-psychologischer Kritik werden.

 

Psychoanalyse und Oral History

Obwohl nach Freud eine Reihe von anderen Schulen und psychologischen Teildisziplinen entstand, spielt die Psychoanalyse - wie angedeutet - gerade bei den Historikern, die hermeneutische Methoden nutzen, eine bedeutsame Rolle. Das kцnnte daran liegen, daя sich keine andere psychologische Schule in der Gesellschaft in popularisierter Form so durchgesetzt hat wie die Psychoanalyse, so eben auch bei Historikern. Das kцnnte jedoch auch tieferliegende Ursachen haben, vor allem bei mentalitдtsgeschichtlich interessierten Wissenschaftlern, nдmlich auf den immanent historischen, zumindest lebensgeschichtlichen Ansatz der Psychoanalyse zurьckzufьhren sein. Beide - Psychoanalyse und erfahrungsgeschichtliche Arbeiten in der Historiographie - mьssen sich mit Erinnerungen, mit den Bedingungen fьr Wahrnehmung, Abspeicherung, Abrufung des Gedдchtnisses befassen, hдufig mit verschьtteten Erinnerungen und deren (Selbst-)Interpretationen.

Es ist eine Generation her, daя Hans-Ulrich Wehler seine Schrift ДGeschichte und PsychoanalyseУ verцffentlichte[46] und in seiner Einleitung die Diskussion aus den sechziger Jahren zusammenfaяte, in der die Psychoanalyse fьr die deutsche Historiographie und die Gesellschaftswissenschaften ДwiederentdecktУ worden war. Er betonte in seinem einleitenden Aufsatz die immanenten ƒhnlichkeiten zwischen Psychoanalyse und Geschichte:

 

Die Psychoanalyse war und ist selber eine historische Wissenschaft in dem Sinn, daя sie aus der Lebensgeschichte der Individuen die Grundlagen ihrer Diagnose und Therapie gewinnt. Historikern und Psychoanalytikern ist gemeinsam, daя sie selber gewissermaяen das Instrument des Verstehens - sei es eines historischen Individuums oder eines Patienten - darstellen. Der Verstehensbegriff der Psychoanalyse ist mit dem auf Erfassung intentionalen Handelns gerichteten ДVerstehenУ des Historismus aufs engste verwandt. (Wehler 1974, 16.)

 

In diesen Gemeinsamkeiten liegen die Stдrken, aber meines Erachtens auch die Probleme psychoanalytischer Deutungen in der Historiographie (s.u.). Solche Verwandtschaften kцnnten auch fьr andere psychologische Schulen, so z.B. fьr die Entwicklungspsychologie, die Sozialpsychologie oder fьr die Sozialisationstheorien geltend gemacht werden - nicht nur fьr die Psychoanalyse.

Das Thema ДGeschichte und PsychoanalyseУ ist zwar nie ganz - weder vorher noch nachher - aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden, aber im Prinzip ist nach dieser Wiederentdeckung der Psychoanalyse in den sechziger Jahren und seit der Zusammenfassung Hans-Ulrich Wehlers wenig Einfluяreiches dazu in Deutschland entstanden.[47] Auch in dieser Frage verlief die Entwicklung in Frankreich, England oder in den USA anders, wo bereits in den siebziger Jahren zwei Zeitschriften gegrьndet wurden, die sich explizit die Erforschung einer ДPsychohistoryУ auf die Fahnen geschrieben haben bei durchaus unterschiedlicher Gewichtung in der Anwendung psychoanalytischer Kategorien.[48]

 


[39] Dilthey 1979, 72 (Einleitung).

[40] Vgl. Gradmann 1990 und 1993 oder Schubert 1986, Schuchardt 1990.

[41] Vgl. u.a. Alheit/Fischer-Rosenthal/Hoerning 1990, Fuchs 1979 und 1984, Schьtze 1984 und 1986, Heinritz 1989, Kohli/Robert 1984, Ohly/Legnaro 1987, Krьger/Marotzki 1996, Behrens-Cobet 1993.

[42] Siegfried 1995, Dittmer/Siegfried 1996 und 1997.

[43] Fьr diesen Zusammenhang vgl. u.a. Meyer/Schulze 1989, Dцrr 1998.

[44] Dazu gehцren auch Themen wie die Entstehung und (generationelle) Tradierung von Rollen, Erziehungsstilen und Werten, von Geschichtsbildern und ihren Prдsentationen oder Konsens- und Dissenselementen oder auch allgemein Vorurteile in einer Gesellschaft, Traumatisierungen und ihre individuelle wie kollektive Verarbeitung, Opfergeschichten oder umgekehrt Schuldabwehren und Legitimationen vergangener persцnlicher Aktivitдt und Politik u.д. mehr.

[45] Selten sind umgekehrt historische Untersuchungen von Psychoanalytikern. Ein Beispiel fьr eine solche Arbeit ist ДDas Erbe der NapolaУ (Schneider, Stillke, Leineweber 1997 (2. Auflage)). Siehe auch Bohleber 1991 und 1992.

[46] Wehler 1971; ich zitiere nach 1974. Vgl. auch Wehler 1972 (Soziologie und Psychoanalyse).

[47] Allerdings ist jьngst die Arbeit von Rьsen und Straub (1998) erschienen, die neuerliche Diskussionen um die Bedeutung der Psychoanalyse fьr die Geschichtswissenschaft wiedergibt.

[48] The Journal of Psychohistory und The Psychohistory Review. Siehe auяerdem die Arbeiten von Loewenberg 1995 und 1996 oder von Thomas Kohut 1983, die explizit und programmatisch diesen Begriff verwenden.

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