BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 2

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Geschichte und Psychologie - Oral History und Psychoanalyse

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Probleme

In der historischen Arbeit mit psychoanalytischen Ansдtzen stellen sich Probleme auf unterschiedlichen Ebenen.[63] Eines der Grundprobleme liegt in der Verallgemeinerungsfдhigkeit der getroffenen Aussagen ьber einzelne Individuen oder kleinere Gruppen hinaus. Dies ist ein neuralgischer Punkt fьr die qualitative sozialwissenschaftliche Forschung ьberhaupt.[64] Dennoch gibt es besondere Probleme, wenn es um Mentalitдten, um Verarbeitungen von Erfahrungen, speziell von traumatischen Erlebnissen usw. geht. Daher bemьht man sich in solchen historischen Arbeiten zumeist um Methodenvielfalt oder um spezielle Methoden, die verallgemeinernde Aussagen wenigstens plausibel erscheinen lassen.

Schon Wehler erhoffte sich aus einer Kooperation mit Psychologen  bzw. Psychoanalytikern - wie erwдhnt - eine Herausarbeitung von Kollektivmentalitдten und Sozialcharakteren, von Sozialprofilen bestimmter Gruppen und Eliten.

 

Kurzum, die historische Forschung sollte auf die gesellschaftlichen, ьberindividuellen Motive und Einflьsse, nicht jedoch auf die sogenannten individuellen Motive abzielen.(Wehler 1974, 22)

 

Diese Unterscheidung ist - wie ich zu zeigen versuchte - in diesem Jahrhundert immer fragwьrdiger geworden und von Wehler auch nicht in kantiger Schдrfe gemeint. Dennoch kann es kaum erstaunen, daя hier einige Kritiker ansetzen. Mit diesem Postulat habe Wehler - so sind gerade psychoanalytisch orientierte Forscher empцrt - einen Diskurs erцffnet und ihn sofort wieder geschlossen, ehe er ьberhaupt die Perspektiven der einzelnen Disziplinen wirklich sichtbar gemacht habe und vor allem ehe er die Grenzen der Disziplinen in ihren Beschrдnkungen in Frage gestellt habe. Bei Wehler sei die Psychoanalyse - so Christian Schneider oder auch Jьrgen Straub in ihren lesenswerten Aufsдtzen[65] - nur Hilfswissenschaft fьr eine in ihrer Analyse eigentlich auf Sozialцkonomie, politische Herrschaft und auf die sozialpsychischen Auswirkungen Дdes gesellschaftlichen und politischen SystemsУ ausgerichteten Geschichtswissenschaft. In diesem Set habe die Erfahrung nur einen begrenzten Platz und die Psychoanalyse nur einen geringen Wert. Die Geschichtswissenschaft bleibe hцherwertig. [66]

Diese Kritik scheint mir in diesem konkreten Fall zunдchst einmal ьberzogen, da Wehler jeder Disziplin ihre Hauptintentionen und Felder zuordnet, bei der Geschichtswissenschaft lдgen sie nun einmal ьberwiegend in der vergleichenden Analyse von Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft, damit bedьrfe sie der ÷konomie, Soziologie und Politikwissenschaft. Davon abgesehen sei die historisch-sozialpsychologisch orientierte Psychoanalyse, die es erst in Ansдtzen gдbe, ДerwьnschtУ (Wehler 1974, 5) zumeist ziele sie jedoch auf individuelle Konfliktlцsungen ab. №berdies sieht er ihren Wert in bestimmten, den eben genannten, durchaus ьberindividuellen Feldern historischer Forschung und Interpretation. Anstatt sich nur auf die singulдren Figuren der Geschichte zu beschrдnken, solle - und das scheint mir eher kritisierbar - die weit mehr versprechende Mцglichkeit gesucht werden, eine gewissermaяen durchschnittliche Persцnlichkeit, die ДModal PersonalityУ zu analysieren, das fьr ihre Zeit Typische, Reprдsentative herauszuarbeiten und durch intensive vergleichende Studien allmдhlich auf das Gebiet der analytischen Sozialpsychologie hinьberzutreten, mithin der Erklдrung kollektiver psychischer Phдnomene nachzuspьren.(Wehler 1974, 19)

Das Problem liegt nur darin, wie man von einer Aneinanderreihung von Einzelbiographien oder Interviewinterpretationen zu einer Verallgemeinerung, zum ьber≠individuell Typischen kommt. Wie kann man dies insbesondere bei den Erfahrungen von Kollektiven oder gar ganzen Generationen? Hier hat sich inzwischen zwar ein kritisch ьberprьfbares Instrumentarium in der lebensgeschichtlichen Forschung entwickelt, das den Anspruch Wehlers aufnimmt, aber ьber seine problematischen Bemerkungen zur Дdurchschnittlichen PersцnlichkeitУ, der ДModal PersonalityУ, hinausweist. Das betrifft insbesondere die Auswahl von Zeitzeugen, die in ihren Merkmalen ein mцglichst breites und widersprьchliches oder gar polares Feld abdecken sollen. Erst dadurch wird die Bildung von Typologien und damit von plausiblen Generalisierungen der Verarbeitungen von Erfahrungen mцglich. Aber eine Reprдsentativitдt wird sich auch durch methodische Verfeinerungen nicht herstellen - zu viele Menschen sind inzwischen gestorben, gefallen oder umgebracht worden, zu gering ist die Zahl der Befragten, die in historisch-sozialwissenschaftlichen qualitativen Forschungen mцglich ist. №berdies wird es immer Ablehnungen solcher Befragungen geben.

Dennoch gibt es entgegen den soziologischen Theorien ьber die Gewinnung von Reprдsentativitдt die Annahme, daя es bei der qualitativen Untersuchung bestimmter Gruppen nach einer gewissen Menge von befragten Personen einen ДSдttigungsgradУ gдbe: Danach scheint es nur noch einzelne Vertiefungen und Erweiterungen zu geben, aber kaum neue grundlegende Verarbeitungsmuster in dieser Gruppe. Eine solche ДSдttigungstheorieУ entspricht der Erfahrung verschiedener Mentalitдtshistoriker unter der Voraussetzung, daя mцglichst widersprьchliche Merkmale bei der Auswahl berьcksichtigt wurden. Das mag an den Mцglichkeiten unserer Hirne liegen oder an unseren Wahrnehmungsbeschrдnkungen bzw. Projektionen, aber es kцnnte auch sein, daя sich in bestimmten Kollektiven ьberschaubare Grundweisen oder Muster der Verarbeitungen von Erfahrungen ausgebildet haben. Daher stellt sich die Frage, ob es unterschiedliche Weisen der Herstellung von Reprдsentativitдt in qualitativen und quantitativen Forschungen gibt.

Unter Einbeziehung psychoanalytischer Methoden und Kategorien verschдrft sich dieses Problem, Typisches oder gar Reprдsentatives herauszuarbeiten. Psychoanalyse ist ursprьnglich bekanntermaяen keine Gesellschaftstheorie, sondern eine Theorie, die aus Therapien einzelner Kranker und zur Fundierung dieser Therapie unter spezifischen historischen Bedingungen entwickelt wurde. Daraus ergeben sich mehrere Fragen: zunдchst die grundsдtzliche Frage nach dem Verhдltnis von Diagnose bzw. Therapie von Patienten zur Gesellschaftstheorie. Der Sprung von der Therapie einzelner zur Theorie einer transitorischen Gesellschaft ist fьr sich bereits problematisch und setzt voraus, daя die Bedingungen, innerhalb derer diese Theorie entstanden ist, noch der gesellschaftlich-historischen Entwicklung entsprechen. Die historischen Bezugssysteme haben sich in diesem Jahrhundert jedoch so stark verдndert, daя die Historizitдt von Therapien und der ihnen zugrundeliegenden Theorien stдndig zur Diskussion stehen mьяte. Dabei kann man zunдchst an die bekannten historischen Relativierungen Freuds erinnern, so an die Wiener Gesellschaft, an die spezifischen bьrgerlichen Familienverhдltnisse am Ausgang des letzten Jahrhunderts, an die Dominanz der Дmдnnli≠chen DimensionУ in diesen Bezьgen und in Freuds Theorien; Familien hдtten sich ьberhaupt gewandelt, frьhkindliche Prдgungen sind in ihrer Dominanz in Frage gestellt, andere Sozialisationsinstanzen in ihrer Bedeutung gewachsen, die Erfahrungszusammenhдnge von Generationen haben eine raschere Abfolge erfahren usw.

Werden diese ƒnderungen nicht berьcksichtigt, besteht hier in besonderer Weise die Gefahr, daя aus einem eigentlich vom Einzelfall ausgehenden Ansatz ein deduktionistischer wird, der dazu neigen kцnnte, das eigene Kategoriengebдude zu bestдtigen; damit kцnnte dieser Ansatz zu einer ahistorischen Gesellschaftstheorie werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, muя hier wie bei anderen methodischen Zugдngen auch, die Analyse des Einzelfalls und jede Generalisierung auch nach der Konfrontation mit anderen Ansдtzen plausibel erscheinen.

Wehler sah dieses konservative Element in den psychoanalytisch orientierten historischen Versuchen als Gefahr, denn: Wiederholung, nicht neue Entwicklung stand mithin im Mittelpunkt. (Wehler 1974, 17) Allerdings waren es psychoanalytisch orientierte oder informierte Wissenschaftler, die eine Historisierung der Freudschen Kategorien versuchten und solche Gefahren vermieden, insbesondere in den Arbeiten von Eriksson, Gay oder auch in den empirischen Untersuchungen von Fromm oder Adorno.[67]

Aus diesem allgemeinen Problem nach der Plausibilitдt einer Gesellschaftstheorie, die aus der Diagnose und Therapie von Einzelfдllen entstanden ist, ergibt sich eine besondere: nдmlich die Frage nach dem Pathologischen und dem ДUnpathologischenУ, nach dem ДNormalenУ und dem ДKrankenУ in einer Gesellschaft. Solche Unterscheidungen sind problematisch, dennoch bleibt die Frage, ob die Psychoanalyse als eine Gesellschaftstheorie, die sich aus der Therapie ausgebildet hat, nicht das pathologische Element in einer Gesellschaft betont, Krankheitsbilder zur Grundlage der Gesellschaftstheorie macht und den Blick fьr die ДUnpathologienУ verliert.[68] Kann man, wдre also die Frage, Patienten und ДnichtpathologischeУ historische Individuen mit den gleichen Kategorien interpretieren?

Ich mцchte dieses Thema noch von einer anderen Seite aus beleuchten. Christian Schneider machte die folgende Frage zum Ausgangspunkt seiner №berlegungen, wie denn ьberhaupt Verstehensversuche aussehen kцnnten, wenn es um das Verstдndnis einer Generation gehe, die die Verbrechen des Nationalsozialismus getragen oder geduldet habe. Er zitiert in diesem Zusammenhang Marc Bloch, der kritisierte, daя wir Historikerinnen und Historiker wegen der Differenzen zu frьheren Generationen zu schnell zu deren Verurteilung kдmen.

 


[63] Vgl. allgemein dazu aus psychologischer Sicht Braun 1985.

[64] Merkwьrdigerweise wird eine ДReprдsentativitдtУ hдufig dann von Historikern angemahnt, wenn es sich um die Verallgemeinerung von subjektiven Quellen handelt - in Verkennung der Tatsache, daя wir uns bei nahezu jeder Quelle um die Interpretation der Дsubjektiven AnteileУ und um den Kontext dieser Quelle zu bemьhen haben. Und bei vielen historischen Arbeiten, die mit klassischen Quellen wie Verwaltungsakten arbeiten, besteht das Problem der Verallgemeinerungsfдhigkeit auch. Vgl. die zugespitzte Gegenposition bei Briesen/Gans 1993.

[65] Schneider 1995 bzw. Schneider 1997, 84 f.. ƒhnlich Jьrgen Straub in seinem einfьhrenden Aufsatz zu Rьsen/Straub 1998, 13 f.

[66] In der Tat erklдrt Wehler die Psychoanalyse zur Hilfswissenschaft fьr historische Arbeiten, auяerdem hдlt er in der Historiographie entwicklungs- und sozialpsychologische Schulen fьr entscheidender. Allerdings wendet Wehler manchmal den Trick an, mit der Kritik an der Psychoanalyse die Psychologie insgesamt treffen zu wollen.

[67] Eine Arbeit Fromms befaяt sich explizit mit дhnlichen Fragen: Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewuяten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse (1990).

[68] So haben dies der Kцlner Psychoanalytiker Klaus Rцckerath und ich in der Vorbereitung dieser Konferenz dsikutiert.

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